Rezension

Gut durchdachte Dystopie

Die Stadt der verschwundenen Kinder - Caragh O'Brien

Die Stadt der verschwundenen Kinder
von Caragh O'Brien

Bewertet mit 5 Sternen

"Die Stadt der verschwundenen Kinder" von Caragh O'Brien ist der Auftakt der "Birthmarked"-Trilogie, einer Jugendbuch-Reihe, die sich in den aktuellen Dystopie-Trend einfügt. Obwohl die Geschichte daher wirklich nicht neu ist, hat mich die Umsetzung doch sehr begeistert.

Zum Inhalt: Die 16-jährige Gaia, die durch eine Verbrennung in frühster Kindheit eine vernarbte Gesichtshälfte hat, lebt in Wharfton und führt nach jahrelanger Ausbildung bei ihrer Mutter, der Hebamme ihres Stadtbezirks, zum ersten Mal allein eine Entbindung durch. Doch in Wharfton dürfen nicht alle Kinder bei ihren Eltern bleiben. Jede Hebamme muss jeden Monat die ersten drei Kinder, die sie entbunden hat, zur Enklave bringen, einer Stadt hinter hohen Mauern, die kaum eine Bewohner Wharftons jemals betreten hat. Auch Gaia weiß nicht, was sich hinter diesen Mauern verbirgt. Kaum hat sie aber ihr erstes Kind dort abgeliefert, erfährt sie, dass ihre Eltern verhaftet wurden. Alles was ihr von ihnen bleibt ist ein geheimes Stoffband mit einem ihr unbekannten Code, das eine alte Freundin ihrer Mutter ihr noch am selben Abend übergibt. Gaia versteht nicht, was es damit auf sich hat und auch nicht, was der junge Enklaven-Soldat Sergeant Leon Grey von ihr will, als er sie zu Notizen ihre Mutter befragt. Doch als ihre Eltern nicht zurückkehren, beschließt Gaia den Geheimnissen selbst auf den Grund zu gehen - und schleicht sich auf die andere Seite der Mauer...

Die Idee hinter der Geschichte hat mich von Anfang an interessiert. Warum werden jeden Monat so viele Kinder aus Wharfton zur Enklave gebracht? Und was ist die Enklave überhaupt? Zu Beginn weiß die Ich-Erzählerin und somit auch der Leser nichts von alledem, obwohl auch ihre beiden älteren Brüder "vorgebracht" wurden, wie sie es nennen, wenn ein Kind der Enklave übergeben wird. Wharfton ist ein einfacher Ort, in dem die Menschen mit Feuerstellen und schlichten Häusern ohne Technik ein eher altertümlich anmutendes Leben führen. Die Enklave versorgt die Menschen mit Nahrung, Wasser und ein bisschen Luxus - und man fragt sich als Leser wirklich sofort, warum? Die Erklärungen, die später geliefert werden, sind zwar auch nicht neu, aber spannend und sehr gut durchdacht, sodass ich von der Grundidee des Romans begeistert bin.

Gaia ist als Protagonistin dieser Reihe gut gelungen. Sie ist keine klassische Schönheit, sondern durch ihre Narben gezeichnet. Manchmal ist sie stark, teilweise aber auch ziemlich naiv, was sie aber in erster Linie nicht anstrengend, sondern abwechslungsreich macht. Auch eine Liebesgeschichte gibt es in dieser Dystopie selbstverständlich, wie eigentlich in allen Jugendbüchern dieser Art. Im Gegensatz zu vielen anderen, tritt "Die Stadt der verschwundenen Kinder" aber nicht dieses "Blinde-Liebe-auf-den-ersten-Blick"-Klischee breit, was oft einfach zu kitschig wirkt. Die Liebesgeschichte hier nimmt man am Anfang sogar kaum wahr, so langsam entwickelt sie sich. Für mich war sie dadurch besonders schön und sehr viel glaubhafter als in vielen anderen Romanen dieser Art.

Auch die Sprache dieses Trilogie-Auftakts konnte mich überzeugen. Sie ist nicht zu einfach und die Autorin schafft es mit detailierten Beschreibungen die Welt ihres Romans in den Köpfen der Leser zum Leben zu erwecken. Ich konnte mich jedenfalls sehr gut in die Atmosphäre der Geschichte hineinversetzen und mit der sympathischen Ich-Erzählerin, die sich auf der Suche nach der Wahrheit und ihren Eltern gegen so viele Hindernisse durchsetzen muss, mitzufiebern. Neben der Ich-Erzählerin überzeugten mich aber auch viele der anderen Charaktere, die ebenso wie die Enklave als Ganzes nicht nur nach einem festen Prinzip von Gut und Böse handelten, sondern sich abwechslungsreich und oft überraschend präsentierten.

Bei den gestalterischen Aspekten des Buches muss ich allerdings ein paar Kleinigkeiten kritisieren. Das Cover ist sehr kindlich geraten, jedenfalls deutlich kindlicher als das Innere des Buches oder die Altersempfehlung von 14-16 Jahren es vermitteln, und erweckte bei mir daher lange Zeit einen etwas falschen Eindruck, der mich vom Lesen abhielt. Durch die gute Sprache und die durchdachte Handlung ist dieses Jugendbuch aber problemlos auch für ältere, wie mich als Mittzwanzigerin, zu geeignet.
Außerdem verspricht das Buch mit über 460 Seiten und einer beachtlichen Dicke vielleicht etwas mehr, als es hält, was mich ein wenig enttäuschte. Denn der Druck ist wirklich sehr groß und der verfügbare Platz auf den Seiten ist noch dazu durch nicht zu verachtende Ränder nur spärlich genutzt. Daher habe ich auch eher das Gefühl, ich hätte ein Buch mit dem inhaltlichen Umfang von 250, maximal 300 Seiten gelesen.

Fazit: Eine sehr durchdachte Dystopie aus dem Jugendbuchbereich mit sympathischer Ich-Erzählerin, schöner Sprache und einer Prise Romantik. Ich habe das Buch wirklich gerne gelesen und es hat mich inhaltlich rundum überzeugt. Lediglich das Äußere des Buches, insbesondere der sehr großzügige Druck, sorgten für eine kleine Enttäuschung, denn es war schneller zu Ende als ein Umfang von über 400 Seiten vermuten ließ. Das Ende ist zwar teilweise abgeschlossen, hält aber auch ein paar kleine Cliffhanger bereit, sodass ich es kaum noch erwarten kann, die Fortsetzung, "Das Land der verlorenen Träume", zu lesen. 5 von 5 Sternen für diese gelungene Geschichte.