Rezension

Gute Unterhaltung mit einigen Schwächen

Die Phantasie der Schildkröte - Judith Pinnow

Die Phantasie der Schildkröte
von Judith Pinnow

Bewertet mit 3.5 Sternen

Edith war mir anfänglich total unsympathisch. Sie ist eine regelrechte Soziopathin und wirkt leicht autistisch. Mit der Zeit erfährt man aber, woher dieses Verhalten kommt, und dank Schneewittchen und anderen Menschen, die in ihr Leben treten, verändert sie sich stark und wird einem mit jeder Seite sympathischer. Dennoch muss ich zugeben, dass ich keine wirkliche Bindung zu ihr aufbauen konnte.

Schneewittchen ist ein aufgewecktes, altkluges Kind, das Edith auf Schritt und Tritt folgt. Sie ist sicherlich jedem sympathisch, auch wenn es mir bei ihr genauso ging wie bei Edith und ich keinen emotionalen Zugang zu dieser Figur fand.

Neben den beiden Protagonistinnen treten eine weitere Reihe interessanter und ungewöhnlicher Charaktere auf. Am unsympathischsten ist hier definitiv Ediths Mutter, die wirklich nur schimpfen und beleidigen kann. Die anderen Figuren, die so nach und nach in Ediths Leben treten und eine wichtige Rolle einnehmen, sind da zum Glück schon viel sympathischer, so dass hier am Ende eine kunterbunte, amüsante Besetzung auftritt, die Ediths Leben und das Lesevergnügen bereichern. Dank dieser Menschen entwickelt sich Ediths graues Leben sehr zum Positiven. Sie emanzipiert sich, findet Freunde, schwänzt ihre Arbeit, wird spontan und interessiert sich sogar für Männer. 

Ediths Verwandlung ist für den Leser erfreulich und voraussehbar, geht mir persönlich aber zu schnell. Hier hätte ich mir ein gemäßigteres Tempo gewünscht. Zwar behält sie einige ihrer Macken, aber diese verkümmern eigentlich eher zu Schrullen, die jedermann haben kann. Befremdlich bis zum Schluss fand ich ihre fiktiven Unterhaltungen mit der Schildkröte Mechthild und ihrer Wunschfreundin, die Moderatorin ihrer Lieblingssendung.

Die Handlung entwickelt sich rasant, und es gibt so einige amüsante Erlebnisse, die Ediths Leben kräftig durcheinander wirbeln. Die Geschichte ist sehr humorvoll, manche Szenen wirken regelrecht slapstickhaft (Ich sage nur: Verfolgungsjagd einer mutmaßlichen Mörderin). Da sie aus Ediths Sicht geschrieben ist, hat man Anteil an ihren Gefühlen und Gedanken, und diese sind oft recht skurril und komisch. Aber es werden auch ernste Themen angesprochen. Vor allem geht es hier viel um Selbstliebe und Toleranz.

Dreht sich anfangs alles um Ediths und Schneewittchens Beziehung und die Aufgaben, die Edith zu lösen hat, stehen diese ab circa der Hälfte des Buches allerdings etwas zurück. Ich persönlich fand das aber ganz gut, da Ediths Veränderung so das "Werk" mehrerer Personen war und nicht nur das eines ominösen Mädchens, von dem keiner weiß, wo es herkommt.
 
Die letzte Aufgabe - die ich hier natürlich nicht verraten werde - passt dann eigentlich nicht so recht zu den vorherigen, zumal sie von einem zehnjährigen Kind gestellt wird, das zwar für sein Alter sehr weise, aber trotzdem noch kindlich ist. Hier hatte ich das Gefühl, dass die Autorin zu viel für Edith wollte und diese in kürzester Zeit quasi alles, was sie im Leben verpasst hat, nachholen sollte.

Wer genau Schneewittchen ist, erfährt man nicht zur vollen Zufriedenheit. Meine Vermutung hat sich teilweise bestätigt, und mir hätte eine etwas bodenständigere Erklärung besser gefallen.

"Die Phantasie der Schildkröte" ist kurzweilige Unterhaltung mit einem sehr guten Ansatz, mir ging jedoch die Entwicklung der Protagonistin viel zu schnell und ab der Hälfte des Buches fehlte mir irgendwie der anfängliche Zauber der Geschichte.