Rezension

Hätt' ich dich heut' erwartet..." und was dahintersteckt

"So bin ich nah, jetzt bin ich fern" - Viktoria Urmersbach

"So bin ich nah, jetzt bin ich fern"
von Viktoria Urmersbach

Die Sesamstraße gehört zu den ersten Fernsehsendungen, die ich in meinem Leben gesehen habe. An viele der kurzen Filme darin kann ich mich noch gut erinnern und einige Worte bzw Ausdrücke sind bei mir inzwischen geflügelte Worte.
So war ich natürlich neugierig auf dieses Buch. Schon nach den ersten Seiten war mir allerdings klar, dass es nicht das war, was ich erwartet hatte. Ich hatte eine locker-leichte Lektüre erwartet, die für Groß und Klein und mit viel Humor eine Übersicht über den Werdegang der Sesamstraße bietet.
Von meinen Erwartungen trifft nur der letzte Punkt uneingeschränkt zu, und es geht keineswegs direkt mit der Sesamstraße los. Stattdessen wird zunächst gründlich beleuchtet, wie die Situation des Kinderfernsehens in den 1960er Jahren aussah, also lange bevor die erste Episode der Sesamstraße über die Mattscheibe flimmerte. Zu der Zeit war ich nicht noch nicht einmal geplant, und so habe ich mit Interesse und einem Kopfschütteln darüber gelesen.
Von da an geht es Schritt für Schritt weiter. Mit der Entwicklung des Kinderfernsehens bis hin zu dem Blick über den großen Teich, wo die Sesamstraße schon zum festen Kinderfernsehprogramm gehört, als es in Deutschland vor lauter Uneinigkeit unter den “Fachleuten” damit noch ganz schön mau aussah. Ich fand das ganz spannend und habe auch da wieder sehr gestaunt. Und irgendwie fand ich es auch typisch, dass Deutschland um dieses Thema zunächst so ein Theater veranstaltet hat.
Genauso interessant ist es zu verfolgen, wie die Sesamstraße in Deutschland ihre ersten Schritte unternahm bzw wie aufwändig es war, dass sie diese Schritte tun konnte. Als Kind habe ich mir darüber natürlich nie Gedanken gemacht und selbst heute als Erwachsene ist mir bis zu diesem Buch nie in den Sinn gekommen, was es alles gebraucht hat um die Sendung ausstrahlen zu können. Als ich davon nun gelesen habe, erschien mir vieles davon logisch. Keine Sendung macht sich von alleine und damals hatte man noch nicht die Möglichkeiten, die man heute bei Produktionen hat. Vor allem aber hat es mich verblüfft, mit welch zahllosen Schwierigkeiten die Macher dieser Sendung zu kämpfen hatten. Mit welcher Kritik sie sich auseinandersetzen mussten!
Ich sehe fast alle Kindersendungen von heute äußerst kritisch und gehöre in dieser Hinsicht zu denen, die gerne sinngemäß behaupten, früher -zu Zeiten der Sesamstraße- sei alles besser gewesen. Damals gab es aber eben auch schon Leute, die das genauso sahen und die die Sesamstraße geradezu als eine Gefahr im Kinder-TV einstuften. Eigentlich einleuchtend, weil es immer ein “Früher” gibt.
Im weiteren Verlauf beschreibt das Buch, wie nach und nach die einzelnen Figuren in die Sesamstraße einzogen, an die ich mich heute noch so gut und gerne erinnere. Es war schön, sie auf diese Weise wiederzutreffen, und es war interessant zu erfahren, wie die Arbeit im Studio aussah. Auch darauf geht Viktoria Urmersbach ausführlich ein. Ich fand es schon verrückt, all das zu lesen und festzustellen, wie geringschätzig ich die Sendung in gewisser Weise angesehen hatte. 30 Minuten Kinderfernsehen mit kurzen Filmen und Puppen, dahinter vermutet man als Laie einfach keinen großartigen Job. Da belehrt einen das Buch schnell eines Besseren.
Ein wichtiges Thema sind außerdem die Botschaften, die mit dieser Sendung transportiert wurden. Ebenfalls etwas, das mir als Kind nicht aufgefallen ist (was aber hoffentlich gewirkt hat [;)] ) und worüber ich mir bis heute keine großen Gedanken gemacht habe. Dass es beispielsweise kein Drama ist, wenn man etwas nicht beim ersten Mal versteht. Das geht Samson genauso! Oder dass es nicht schlimm ist, etwas tollpatschig zu sein. Bibo haben trotzdem alle gerne! Oder dass sich Konflikte friedlich lösen lassen, wie zahlreiche Dispute mit Oscar oder Herrn von Bödefeld beweisen.
Der Werdegang und die Entwicklung der Sendung wird bis in die heutige Zeit betrachtet, wo sie komplett anders aussieht als früher. Als ich über die Veränderungen gelesen habe, waren sie für mich logisch und sinnig. Mit Kinderfernsehen im Stil der 70er-Jahre lockt man heute kein Kind mehr hinter der Playstation vor. Die Sendungen musste sich verändern. Aber so logisch es mir auch erschien, rein aus dem Bauch heraus werde ich mit der heutigen Sesamstraße nicht warm. Und die Qualität steht für mich -subjektiv betrachtet- in keinem Verhältnis zu der Qualität der Sendunge in meiner Kindheit. Daran konnte das Buch auch nichts ändern.

Ich habe das Buch häppchenweise gelesen. Das geht deshalb so gut, weil es 7 Kapitel gibt -quasi die Etappen der Sendung- und in jedem Kapitel zahlreiche einzelne und relativ kurze Artikel mit verheißungsvollen Titeln. Trotzdem ist das Buch ganz klar an große Leser gerichtet. Denn auch wenn durchaus ab und zu ein Funken Humor durchblitzt, so ist es doch geradezu wissenschaftlich und sehr ernsthaft geschrieben. Entsprechend liest es sich nicht so flott. Für Kinder sind aber sicher die vielen Bilder interessant und die bunten Seiten, auf denen zB das Quietschentchen-Lied oder das berühmte “Hätt’ ich dich heut’ erwartet…” abgedruckt sind. Für mich waren diese Seiten eine schöne Auflockerung zwischendurch.

Mehr als 40 Jahre Sesamstraße, das muss gefeiert werden! Dementsprechend sind die Puppen auf dem Cover in bester Partylaune. Ein schönes buntes Motiv, das Fans von früher sicher genauso anlocken wird wie die Fans von heute.

Fazit:  Das Buch war nicht so, wie ich es erwartet hatte. Es ist ganz klar keine vergnügliche, leichte Nebenbeilektüre. Es richtet sich an erwachsene Leser und nimmt die  “Sesamstraße” recht wissenschaftlich und ernsthaft unter die Lupe. Ich fand das super interessant und es hat mir gezeigt, dass ich die Sendung bislang ganz schön geringschätzig betrachtet habe. 30 Minuten Kinder-TV, das kann doch keine Arbeit sein! -Von wegen! Schön, das so aufgzeigt zu bekommen. Viele Bilder aus der Sendung und vertraute Liedtexte zwischendurch lockern die Lektüre gut auf und die vielen kurzen Artikel lassen sich gut etappenweise lesen, sodass man sich trotz aller Ernsthaftigkeit niemals erschlagen fühlt. Empfehlenswert für Fans der ersten Stunde(n)!