Rezension

Hat deutlich mehr gehalten als ich mir davon versprochen hatte...

Mein Leben - Marcel Reich-Ranicki

Mein Leben
von Marcel Reich-Ranicki

Bewertet mit 4.5 Sternen

Mit seinem "Literarischen Quartett" beweist Marcel Reich-Ranicki seit 1988, dass die Vermittlung von anspruchsvoller Literatur im Fernsehen höchst unterhaltsam sein kann. In diesem Buch zeigt sich der Literaturkritiker als temperamentvoller und anschaulicher Erzähler. Farbig, pointiert und anekdotenreich schildert er die Stationen seines so bewegten wie bewegenden Lebens.

Zugegeben, ich mochte, wie so viele, Marcel Reich-Ranicki nicht - ein Fanatiker, so schien es, in Sachen Literatur, kompromisslos, von sich selbst überzeugt, keine andere Meinung neben sich gelten lassend. Ein Genius, sicherlich, aber ein zutiefst unsympathischer Zeitgenosse.
Anlässlich seines Todes fiel mir jedoch seine Autobiografie ein, die schon länger in meinem Bücherregal in zweiter Reihe geduldig ausharrte. Nachdem ich einen vorsichtigen ersten und dann einen neugierigen zweiten Blick gewagt hatte, blieb ich fasziniert bei der Lektüre hängen.

Wie bei (Auto-)Biografien üblich, zeichnet MRR (1920-2013) seinen Lebensweg von der Kindheit bis zum Alter auf, eingebettet jedoch stets in Erlebnisse, die er mit der Literatur, dem Theater oder auch der Musik hatte, gerahmt von Begegnungen mit Schriftstellern, Journalisten und anderen namhaften Persönlichkeiten.
Dass er bereits in Kindheit und Jugend mit der Literatur in Berührung kam - nie las er mehr als in der Gymnasialzeit - war ein Trost und ein Segen für ihn, als er gleich nach seinem Abitur mit seiner Familie 1938 nach Polen deportiert und schließlich im Warschauer Ghetto interniert wurde. Die unmenschlichen Bedingungen wurden erträglicher durch Literatur, heimliches Schallplattenhören und Konzerte - und hier lernte MRR auch seine Frau Tosia kennen und lieben. Beiden gelang schließlich die Flucht aus dem Ghetto, während er seine Eltern und seinen Bruder dort zum letzten Mal sah.

Von einfachen Menschen auf dem Land versteckt, überlebten MRR und seine Frau die Zeit des Krieges - und in langen Nächten erzählte er seinen Rettern allabendlich Geschichten aus den großen Werken der Literatur. Nach dem Krieg blieb MRR zunächst in Polen und wurde dort für den Geheimdienst rekrutiert. Manches davon liest sich fast baudolinohaft, so z.B. wie er plötzlich zum Instrukteur des polnischen Geheimdienstes wurde, dabei seine "Kenntnisse" aber nur dem Wissen aus der Literatur entlehnte. Doch aus seiner anfänglichen Begeisterung über den Kommunismus wuchsen rasch Skepsis und Zweifel, und so flüchteten MRR und seine Frau Tosia schließlich zurück nach Deutschland.
Zurück in die Heimat? Nein, auch wenn MRR zuweilen die Sehnsucht nach Berlin überfiel, nach den Orten seiner Kindheit und Jugend, so empfand er sich selbst zeitlebens als Heimatloser. Seine einzige Heimat war eine portative: die deutsche Literatur.

Zurück in Deutschland begann sein kometenhafter Aufstieg als Literaturkritiker. Schnell fand er eine Anstellung bei "Die Zeit", nahm aber während all der Jahre dort nicht einmal an einer Konferenz teil. Er arbeitete ausschließlich von zu Hause aus, an einem Zusammentreffen war den Verantwortlichen nicht gelegen. MRR meint hierzu, ihm gehe es wie Friedrich Schlegel: "Man findet mich interessant und geht mir aus dem Wege."
Spätestens seit seinem Buch "Lauter Verrisse" galt MRR als ein Mensch der literarischen Hinrichtungen. Als Literaturpapst wurde er angefeindet - und fand diesmal Trost bei Heine: "... der Hass seiner Feinde dürfe als Bürgschaft gelten, dass er sein Amt nicht ganz schlecht verwalte." Obgleich in seiner Zeit bei der FAZ und ab den achziger Jahren mit dem "Literarischen Quartett" so erfolgreich mit seinem Engagement für die Literatur, für seine Heimat, war MRR oft einsam. Wenige Freundschaften, die aus unterschiedlichen Gründen doch meist wieder zerbrachen.

Heimatlos und einsam. Ein bitteres Zurückschauen? "Die Furcht, nur in der Literatur zu leben und vom Menschlichen ausgeschlossen zu sein (...) hat mich nie ganz verlassen (...) gehört zu den Leitmotiven meines Lebens." So schrieb MRR es bereits zu Beginn seiner Autobiografie.
Aber nein, es ist kein bitterer Rückblick, kein Abrechnen mit dem Leben. Es ist eine Liebeserklärung an die Literatur, vornehmlich die deutsche, als deren Anwalt er sich sah und der er sein Leben gewidmet hatte. Ein Leben voller Brüche - aber hinsichtlich seines größten Anliegens letztlich doch ein geglücktes Leben.

Nein, man muss ihn nicht lieben, diesen Querdenker, der nie ein Blatt vor den Mund nahm. Aber diese Autobiografie ist überaus interessant geschrieben, ehrlich und stellenweise sogar selbstkritisch. Schnörkellos, klug und wenig selbstverliebt bietet MRR in seinen Lebenserinnerungen dem Leser einen durchaus unterhaltsamen Rückblick auf das Geschehen im vergangenen Jahrhundert - und macht neugierig auf Literatur.
In der Tat habe ich mir einige Titel notiert, die ich gerne einmal lesen würde - und von denen ich bislang noch nicht einmal wusste, dass es sie gibt!

Zusammenfassend gesagt, hat diese Autobiografie mehr gehalten als ich mir davon versprochen hatte. Und wird daher von mir mit einer unbedingten Empfehlung zum Lesen versehen!

© Parden

Bebildert und mit weiteren Informationen versehen gibt es diese Rezension auch wieder in unserem Blog:

http://litterae-artesque.blogspot.de/2013/10/reich-ranicki-marchel-mein-...