Rezension

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Hat mein Herz leider nicht berührt

Die Tage, die ich dir verspreche - Lily Oliver

Die Tage, die ich dir verspreche
von Lily Oliver

Gwen wurde ein neues Herz transplantiert, und alle um sie herum sind glücklich und erleichtert und erwarten, dass sie sich in ihr wiedergeschenktes Leben stürzt. Doch Gwen empfindet Schuldgefühle: Ist da nicht jemand für sie gestorben? Und wie soll sie all den Erwartungen gerecht werden? Sie gerät in den Strudel depressiver Gedanken und möchte am liebsten ihrem Leben ein Ende setzen. Aber das geschenkte Herz möchte sie unbedingt weitergeben und bietet es auf einem Internetforum für Herzkranke an. Der Moderator löscht den Beitrag sofort und teilt ihr ironisch mit, dass er das Herz für sich möchte. Gwen nimmt das wörtlich und macht sich sofort auf den Weg.

Bis dahin fand ich die Geschichte trotz kleinerer Schwächen recht ansprechend. Doch dann rutscht sie für mein Empfinden ab: Es entwickelt sich die übliche boy-meets-girl-story mit den klassischen Verwicklungen: Natürlich verlieben sich beide auf den ersten Blick, doch Gwen hält Noah für herzkrank und er hält diese Lüge aufrecht. Wie soll sich eine Beziehung auf der Basis einer Lüge entwickeln?

Die Liebesgeschichte nimmt den größten Teil des Buches ein, und sie spricht mich überhaupt nicht an. Noahs Charakter überzeugt mich nicht: Sein Internetforum scheint sein einziger Lebensinhalt zu sein; er kümmert sich nicht um sein Studium, er kann selbst auf einer Party nicht abschalten, und diese Fixiertheit hat anscheinend auch einen Anteil am Ende seiner Beziehung. Noah fährt voll auf Gwen ab, obwohl er feststellt, dass sie gar nicht sein Typ ist. Die offenherzige Anmache auf der Party berührt ihn nicht, aber ein verzweifeltes, selbstmordgefährdetes Mädchen - und das nicht nur emotional, sondern auch physisch? Und seine Handlungsweise ist absolut unverantwortlich. Nein, das passt alles nicht zusammen.

Gwen ist da glaubhafter. Doch wenn sie eine echte Depression hat, wird die nicht durch ein bisschen Geocaching überwunden - und ob sich ein Mensch, der so kurz vor dem Selbstmord steht, so grenzenlos verliebt? Auch das ist für mich etwas fragwürdig. Ich kann auch kaum nachvollziehen, dass Gwen weder zum Vater noch zur Mutter noch zum Bruder Kontakt aufnimmt, zu dem Freund Alex, der sie die ganze Zeit gestützt hat, nur um die Beziehung zu beenden, und besonders nicht zu ihrer Leidensgefährtin Leni. Das kann ich mir nur durch eine Depression erklären, aber dazu passt ihr anderes Verhalten nicht.

Positiv: Das Thema Organtransplantation ist ernst und wichtig. Ich habe zwar seit Jahrzehnten einen Organspenderausweis, habe mir aber ansonsten wenig Gedanken darüber gemacht. Dass z. B. mit einer Herzspende nicht alles gut ist, sondern dass (neben dem Risiko, ob das Organ überhaupt vom Körper angenommen wird) trotzdem nur eine relativ kurze Lebenserwartung besteht, wusste ich nicht. Und dass ein Empfänger nicht einfach glücklich und dankbar ist, sondern (wie ein Holocaustüberlebender) voller Zweifel und Schuldgefühle sein kann, habe ich noch nie bedacht. Auch das Thema Depression hat hohe Brisanz. Wie soll man sich gegenüber einem Menschen mit Suizidgedanken verhalten? Ist es richtig, ihm eine Beziehung anzubieten und zu versuchen, ihn persönlich zu stützen - oder ist das fahrlässig und unverantwortlich? Hier gibt es wohl gleichfalls keine einfache Antwort. 

Fazit: Das Buch berührt wichtige Themen, doch leider für meinen Geschmack zu oberflächlich. Die Charakterzeichnung hat mich nicht in allen Punkten überzeugt. Es bleibt eine nette Liebesgeschichte, die viele Leser berührt, mich aber leider nicht anspricht. Meine Erwartungen wurden nicht erfüllt; sie waren anscheinend zu hoch. Lesern mit einem anderen Geschmack gefällt das Buch anscheinend gut: Sie genießen die zarte Annäherung zwischen den beiden Hauptpersonen und schätzen die Momente mit Tiefgang, die über leichte Unterhaltung hinausgehen.