Rezension

Hier bin ich - aber wer bin ich eigentlich?

Hier bin ich
von Jonathan Safran Foer

Bewertet mit 4.5 Sternen

Ein einziges Wort: »Hineni«. Es bedeutet »Hier bin ich.« Und es ist der mächtigste Ausdruck in der hebräischen Sprache für menschliche Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, eine Aufgabe mit eindeutiger Verpflichtung und Präsenz. (Zitat aus "Jüdische Allgemeine"; Rabbiner Yehuda Teichtal)

"Hier bin ich" ist der Titel des dritten Romans von Jonathan Safran Foer. Jacob ist verheiratet mit Julia, hat drei Söhne, lebt in Washington, arbeitet als Drehbuchautor für eine Fernsehshow. Er hat so einige Probleme: Seine Ehe mit Julia gerät in eine Krise, sein ältester Sohn hat in der Schule rassistische Sprüche niedergeschrieben, sein Großvater kann nicht mehr allein leben, möchte aber nicht ins Altersheim, sein Hund kackt überall ins Haus, die Verwandtschaft reist zum Familienfest an... Alles übliche Probleme, wie wir sie kennen - alltägliche Schwierigkeiten eine midlife-crisis mit Beziehungsproblemen zum Ehepartner, zu alternden Eltern und pubertierenden Kindern. Aber wie wird das dargestellt: Wortgewaltig, mit tiefschürfenden Dialogen, mit spielerischem Wortwitz, mit Vor- und Rückblenden. Das hat mich gefesselt und mir dazu verholfen, mich in die unterschiedlichen Personen einzufühlen. 

Jacob ist in einer Krise, und er sucht nach Identität. Er ist Ehemann, dreifacher Vater, Sohn, Enkel, doch wer ist er für sich selbst? Wofür ist er bereit, sich einzusetzen? Da ist noch ein Aspekt, der nun wiederum nicht so alltäglich ist: Jacob ist Jude. Und obwohl er nicht religiös ist, gehört das Judentum zu seiner Familiengeschichte und zu seiner Identität. Sein Großvater Isaac und dessen Bruder haben als einzige aus der Familie den Holocaust überlebt, und dessen Erinnerungen zeigen, was die Zuschreibung einer jüdischen Identität durch andere bedeuten kann. 

Und wie Jacobs Familienleben im Kleinen erschüttert wird, geschieht das auch im Großen: Israel wird von Erdbeben heimgesucht, und in der Folge sehen die feindlichen Nachbarstaaten die Chance, die geschwächte Nation ein für alle Mal in die Knie zu zwingen. Was bedeutet dies nun für Jacob? Wo liegt seine Verpflichtung: Im Staat Israel beim jüdischen Volk oder bei seiner auseinanderbrechenden Familie? Neben der realistischen Feinzeichnung der Bilder einer Ehe entwirft Foer eine politische Phantasie. 

Alles in allem also facettenreicher Roman, der mich mit der psychologisch überzeugenden Darstellung von Menschen in der Krise berührt hat. Ich brauchte alle meine Kenntnisse vom Judentum, und vermutlich habe ich dennoch manche Aspekte übersehen oder nicht verstanden. (Vielleicht wäre ein kleines Glossar einiger jüdischer Begriffe für viele Leser da hilfreich.) Fasziniert hat mich dieses dicke Buch aber jederzeit. Und es ist damit eins der Bücher, die ich vermutlich mit einigen Jahren Abstand gern noch einmal zur Hand nehme.