Rezension

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Hoch gesteckte Ziele

Spanische Dörfer - Wege zur Freiheit
von Maria Braig

Bewertet mit 3 Sternen

Aufrüttelndes Thema

Dieses Buch zu rezensieren fällt mir nicht leicht! Die Thematik ist mir ausgesprochen wichtig und die durchweg positiven Absichten, die hinter diesem Roman stecken, sind mir alleine mindestens 2 Sterne wert! Mit der Umsetzung in Romanform bin ich leider nicht wirklich glücklich geworden. 

Es geht um drei junge Menschen, die aus völlig verschiedenen Gründen zu Randgruppen der Gesellschaft gehören. Da ist zum einen La Marche, später Manso genannt, eine Farbige, die offenbar nachts schwimmend die Straße von Gibraltar überquert und so das europäische Festland erreicht. Ihr Ziel ist die Freiheit in Mitteleuropa. Wo genau sie herkommt und was bisher mit ihr geschehen ist, erfährt der Leser nicht. 

Desweiteren gibt es da noch Enrique, der früher Henriqua hieß - also ein Transgender - der schon den größten Teil der Geschlechtsumwandlung hinter sich hat. Da seine beruflichen Perspektiven in Spanien denkbar schlecht sind, beschließt er, nach Deutschland auszuwandern. Sein bester Freund Leon hat das Down-Syndrom und gehört somit ebenfalls zu einer ausgegrenzten Bevölkerungsgruppe. Er möchte gerne Lehrer werden und nimmt in Spanien sein Studium auf.

So weit, so gut. Leider wirkt dieser Roman auf mich eher wie eine Berichterstattung von Gedankengängen. Keiner der Protagonisten schafft es, in mir ein Bild zu erzeugen. Sie bleiben von Anfang bis Ende wie durch einen Nebel betrachtet und lassen mich nicht wirklich mitfiebern. Außerdem ist die Handlung schnell durchschaubar und ich wusste recht früh, wohin die Reise geht. Spannung kam also auch keine auf, was aber auch nicht unbedingt sein muss bei einem Roman dieses Themas. 

Leider kamen auch sehr viele Wiederholungen. Die Gedanken über die Vergangenheitsverdrängung, den Wunsch nach Freiheit, Lauf, los lauf!, immer wieder tauchen die gleichen Gedanken auf. Nicht nur bei Manso, auch bei Enrique oder Leon. Für mich war das etwas ermüdend, denn es wirkte auf mich wie eine gebetsmühlenartige Predigt, wie schwer alles ist, was Flüchtlinge alles erleiden müssen, wie durcheinander sie sind, wie viel Angst sie haben etc. Ich hätte diese Empfindungen gerne nachempfunden, aber mittels Dialogen, Handlungen, Reaktionen auf die Handlung anderer, Umschreibungen o. ä. Nicht durch bloßes In-Worte-fassen von Gedankengängen und dann auch noch immer der gleichen. Der Roman war mir an dieser Stelle zu offensichtlich zweckgerichtet. Es geht um das hoch gesteckte Ziel, mehr Verständnis für Flüchtlinge, Transgender und Behinderte zu erzeugen. Darüber wurden die Personen und Handlungen innerhalb des Romans leider vernachlässigt. Und beides macht für mich einen guten Roman aus.

Enriques Geschichte war mir insgesamt zu flach. Davon abgesehen, dass ein eigener Roman dem Thema Transgender  gerechter geworden wäre, erschien mir seine Ausgangssituation wirklich erschreckend oberflächlich: Als einzige und erste Tochter nach 3 Söhnen kann ja kaum was anderes passieren, als dass sie ein Junge werden will! Was für Vorurteile werden denn da bedient? An dieser Stelle habe ich das Buch erstmal zugeklappt und musste einen Tag darüber brüten, ob ich überhaupt weiterlesen will. Warum um Himmels Willen muss sie die einzige Tochter sein? Sind Einzelschwestern unter Brüdern potenzielle Transgender, weil sie lieber mit den Brüdern Fußball spielen (und selbstverständlich besser als diese!) oder mit Autos statt mit Puppen? Weil sie lieber durch den Dreck toben statt saubere rosa Kleidchen zu tragen?

Wie viel eindrucksvoller wäre es gewesen, wenn einer der 3 Brüder sich im falschen Körper gefühlt hätte. Wenn er lieber mit der kleinen Schwester mit den Puppen gespielt hätte und sich geschminkt hätte mit 14, statt mit den anderen auf Bäume zu klettern. So erweckt es doch eher den Eindruck, als wäre sie nur neidisch auf die Brüder gewesen, weil sie viel mehr durften, viel schönere Spiele hatten und sie einfach dazu gehören wollte. Ein weiblicher Wildfang unter Brüdern, der seine weibliche Seite nie ausleben konnte und daher natürlich irgendwann zum Mann werden muss. Wäre sie mit 3 Schwestern groß geworden, dann wäre sie wahrscheinlich ein zufriedenes Mädchen geworden. Das sollte ziemlich sicher nicht vermittelt werden, aber genau das passiert in manchen Köpfen.

Zudem noch das in meinen Augen zwar nachvollziehbare, jedoch trotzdem unkorrekte Vorgehen von La Marche, sich einfach in ein momentan nicht genutztes Ferienhaus einzuquartieren und dort die Vorräte zu plündern. Wie gesagt: nachvollziehbar in ihrer Situation, aber trotzdem hätten dazu zumindest einige Statements gehört, dass sie sich damit unwohl gefühlt hat, andere zu bestehlen und in ein fremdes Haus einzubrechen (was anderes war es ja schließlich nicht), dass sie lieber anders vorgegangen wäre, aber nicht wusste, wie sie sonst hätte überleben können oder irgendetwas in der Art. Stattdessen ist sie unheimlich glücklich, dass sie dort Vorräte findet, die bis zum Frühjahr reichen. Ich will ja nicht päpstlicher als der Papst erscheinen, aber bei einem Roman mit solch hehren Absichten hätte ich nicht erwartet, dass "Der Zweck heiligt die Mittel" vermittelt werden soll.

Fehlt noch Leon mit dem Down-Syndrom. Auch hier wiederholt sich ständig, dass er von "normalen" Menschen als Leuten mit zu wenig Chromosomen denkt. Leute, die neidisch sind auf sein zusätzliches Chromosom etc., etc., etc. Wenn so ein Gedankengang 1mal oder meinetwegen auch 2mal in einem Roman vorkommt, dann reicht das als Denkanstoß völlig aus. Man muss es nicht wie Kaugummi immer und immer wieder in Leons Gedankengänge einbauen. Ich bezweifele, dass Menschen mit Downsyndrom so etwas ständig denken. Ich finde es ohnehin schwierig, mir diesen Leon vorzustellen. Die einzige Information die man bekommt ist die, dass er Downsyndrom hat, aber offenbar nicht zu den stark davon Betroffenen zählt, denn sonst hätte er kaum Abitur und Uni schaffen können. Leider bleibt auch diese Person für mich völlig nebulös.  

Der für mich interessanteste Part dieses Romans war der über das italienische Dorf Riace. Ich kannte die Geschichte dieses Dorfes zuvor nicht und habe mich unmittelbar an Tante Google gewandt, um herauszufinden, ob es dieses Dorf tatsächlich gibt - was der Fall ist - auch wenn es im Roman beschönigend dargestellt wird. Im net findet man eine Reihe Berichte, die nicht alle rundum begeistert sind, weil auch dort die Flüchtlinge letztlich nur benutzt werden. Sie werden als billige Arbeitskräfte genutzt, tragen ein großes Teil zur Finanzierung der Gemeinde bei durch die Zuschüsse des Landes pro Flüchtling, halten so das Dorf am Leben, verbringen jedoch ihre Freizeit größtenteils unter sich - die Einheimischen möchten in ihrer Freizeit dann doch nicht wirklich was mit den Flüchtlingen zu tun haben - zumindest in der Realität von Riace. Trotzdem funktioniert es zumindest so lange, wie der Asylantrag in Bearbeitung ist. Wird er abgelehnt oder auch bewilligt, muss der Flüchtling Riace räumen - dann gibt es nämlich auch kein Geld mehr von Vater Staat. Das wird wohlweißlich verschwiegen und nur ganz diffus angedeutet im Roman, denn Mimmo, Riaces Bürgermeister, drückt sich vor der Antwort auf Enriques Frage und auch der Leser bleibt im Ungewissen.

Trotzdem empfinde ich gerade wegen des Beispiels Riace das Ende des Buches durchaus nicht als utopisch. Es wäre praktikabel und auch hier habe ich oft genug gedacht, dass es im geplanten Braunkohleabbau-Gebiet mehr als genug Möglichkeiten gäbe, Asylsuchende für einen längeren Zeitraum menschenwürdig in den verlassenen Dörfern mit geplantem Abriss unterzubringen. 

Fazit: Eine in meinen Augen nicht wirklich gelungene Umsetzung, gleich mehrere brisante Themen in einem Roman unterzubringen. Hier wäre weniger vermutlich mehr gewesen. Trotzdem heiligt das Thema doch zumindest im Ansatz die Mittel und daher gibt es 3 Punkte von mir.