Rezension

homo homini lupus

Der Reisende - Ulrich Alexander Boschwitz

Der Reisende
von Ulrich Alexander Boschwitz

Bewertet mit 5 Sternen

Schon das kurze Vorwort hat es in sich. Die Weichen sind gestellt. Der Zug ist ins Rollen gekommen und mitreisen werden Angst, Verzweiflung, Hass und Willkür. Otto Silbermann wird dabei auf der Strecke bleiben. Dem Leser wird nichts erspart. Er geht den ganzen Weg mit ihm.

Anständiges Miteinander wird zum immer seltener werdenden gnädigen Abgeben und Dulden. Dankbarkeit und Ducken werden dafür erwartet. Der Leser ist schon ab der ersten Seite höchst alarmiert. Silbermann hingegen weiß sehr lange nicht, was mit ihm geschieht. Das Unheil kommt schleichend. Gedanken, Worte, Taten – geschürt und mit Rechtfertigung gestützt.

Zu allen Zeiten ist diese Saat aufgegangen. Verwirrend ist, dass man manche Argumente verstehen kann. Alles sind menschliche Reaktionen, charakterlich gesteuerte Verhaltensweisen. Beide Seiten wollen überleben, nur nicht auffallen. Gleichzeitig ist man schockiert, wie überzeugt jeder ist, genau das richtige zu tun. Beklemmende Realität.

Keiner hat etwas gesehen, keiner hat das gewollt. Das geht mich nichts an. Was sollten wir denn machen? Wir würde man selbst in derselben Situation handeln? Wäre man wirklich anders, wenn es um die eigene Sicherheit geht? Wegschauen oder aktiv mittun; beides führt zum gleichen Ergebnis. Nachbarn werden zu Feinden, selbst Freunde zur Bedrohung. Mobbing endet im Massenmord.

Schon während des Lesens kann sich seiner selbst nicht mehr sicher sein. Die Mitmenschen von damals unterscheiden sich in Nichts von uns heute.

Passivität erzeugt dieselbe Schuld wie aktives Handeln. Rechtfertigungen und Unschuldsbeteuerungen sind wertlos. Anpassung, Stillhalten oder Gleichtun versprechen Rettung und Verschonung. Die Angst und Verzweiflung der anderen können an das eigene Dilemma nie heranreichen. Die dabei offen gelebte Unmenschlichkeit wird zur erschreckenden Normalität. Vielleicht ist es aber gerade dies ein fester Bestandteil menschlichen Handelns ist, das jeder in sich trägt. Diese Erkenntnis zeigt das Schicksal Otto Silbermanns, das stellvertretend für Millionen Menschen steht, nur allzu deutlich. Ich halte die geschilderten Mechanismen keineswegs für ein typisch deutsches Phänomen. Daher stellt die Lektüre für mich der gesamten Menschheit ein sehr schlechtes Zeugnis aus. Erinnerung, Mahnung und Warnung. Denn wenn die Umstände es für einem selbst zu verlangen scheinen, ist der Mensch dem Menschen ein Wolf, kein Mensch.