Rezension

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Ich bereue nichts!

Fische
von Melissa Broder

~ Der flüssige, gelungene Schreibstil, die ungewöhnliche, gnadenlos ehrliche Protagonistin, der feine Humor, die dichte Atmosphäre und die tiefgründige Behandlung ernster Themen konnten mich absolut überzeugen. Wenn man sich voll und ganz darauf einlässt, ist dieses Buch, das geschickt die Realität und die Mythologie verbindet, ein Pageturner voller wahrer, poetischer Zitate und vieler verborgener Bedeutungsebenen. Melissa Broders „Fische“ ist ein Roman, der mich mit voller Wucht getroffen hat und nicht mehr so schnell loslassen wird. Beim Lesen muss man vorsichtig sein, nicht im Ozean von Lucys Gefühlen zu ertrinken und nicht von ihren schweren Depressionen, Obsessionen, ihrer Leere und ihrer Suche nach der wahren Liebe unter Wasser gezogen zu werden. Für mich ein einzigartiges, berührendes, intensives Meisterwerk! ~

Inhalt

Lucys Welt bricht zusammen, als sie die Trennung vorschlägt und ihr Partner Jamie schockierenderweise nicht heftig protestiert (wie Lucy eigentlich erwartet hatte), sondern ihr zustimmt. Für Lucy beginnt eine Zeit voller Schmerz, Selbsthilfegruppen-Treffen, Leere und Obsessionen. Als sie eines Tages bei einem Felsen am Strand den Meermann Theo kennenlernt, verändert sich abermals alles für die erfolglose Doktorandin.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus weiblicher Perspektive
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: - Es kommt zu grober, für Menschen mit Herz für Tiere kaum zu ertragender Vernachlässigung eines Hundes, an der er schlussendlich stirbt.

Warum dieses Buch?

Ich habe im Vorfeld viel über dieses Buch gehört, es wird von Menschen auf der halben Welt leidenschaftlich geliebt oder gehasst und scheint unglaublich zu polarisieren. Manche LeserInnen raten, die Finger bloß von diesem „Schund“ zu lassen, andere legen einem Melissa Broders Debüt wiederum ans Herz. Trotz dieses Wissens bin ich so unvoreingenommen wie möglich an die Geschichte herangegangen.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Ich fand sofort und ohne Probleme in das Buch. Sofort wallten Interesse und Neugier auf für Lucy, deren Gedankengänge von philosophisch und wissenschaftlich, über esoterisch, bis hin zu gemein und obszön reichen. Hier mein Tipp: Wer überlegt, das Buch zu lesen, sollte sich das erste Kapitel vornehmen. Wer dort schon Probleme mit der Sprache hat, die unüberwindbar scheinen, wird sie auch mit dem restlichen Buch haben.

Inhalt, Themen & Botschaften (♥)

„Fische“ hat mich trotz allem absolut unvorbereitet und voller Wucht getroffen, ähnlich einem Eisberg, der mit meinem Boot kollidierte, als ich gerade gemütlich auf dem Ozean der Bücher und des Lesens dahintrieb. Melissa Broders Erstlingswerk ist eine wahre Gefühlsachterbahn, die bei mir nicht ihre Wirkung verfehlte. Ich habe die Protagonistin bemitleidet, habe mit ihr gelitten und mich gefreut, habe geschmunzelt und amüsiert aufgelacht und war berührt von der Tiefe, Weisheit und teilweise auch Schönheit ihrer Gedanken. Ich bin aber auch ein Mensch, der sich schnell ekelt – und ich habe mich beim Lesen sätzeweise, manchmal sogar seitenweise mit Leidenschaft geekelt und fand viele der Szenen (vor allem der Sex-Szenen) mehr als verstörend. Jedoch war es für mich das alles wert, niemals habe ich auch nur eine Millisekunde darüber nachgedacht, das Buch abzubrechen. Schnell wurde mir klar: Man muss sich voll und ganz auf dieses Buch einlassen, sollte es nicht nebenher oder parallel lesen, sonst ist dieses Projekt von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Und genau das habe ich gemacht.

„Ich fürchtete, von meinen Gefühlen aufgefressen zu werden. Gefühle waren ein Luxus für die Jugend oder für Leute, die stärker waren als ich und mit dem Menschsein insgesamt besser zurechtkamen.“ E-Book, Position 225

Die Autorin kreiert ein Werk des magischen Realismus, verbindet gekonnt die Realität mit dem Phantastischen. Niemals hatte ich das Gefühl, dass beide Welten nicht nebeneinander existieren könnten, denn in diesem Roman erscheint es ganz natürlich, fast logisch, dass Theo Lucy an ihrem Felsen besucht. Theo ist sowohl ein Mittel, um Lucys Probleme und Obsessionen noch mehr in den Vordergrund zu stellen, er ist aber auch eine eigenständige Figur, die zugleich fasziniert, aber auch schwer einzuschätzen ist. Vor allem gegen Ende kommt es zu wunderbar unheimlichen Stellen, die mir eine Gänsehaut bescherten. Stellenweise wurde ich beim Lesen auch vage an den Film „Shape of Water“ erinnert.

Melissa Broder Werk ist zugleich hochromantisch und abstoßend, wissenschaftlich und ohne jede Logik. Es ist schonungslos und geht auch bei unschönen Dingen verstörend genau ins Detail. Doch nach der Lektüre kann ich sagen: Ich bereue nichts! Denn: Dieses Debüt ist eines dieser besonderen, einzigartigen Bücher, die einen nicht so schnell, vielleicht nie mehr richtig loslassen. „Fische“ ist eine intensive, tiefgründige Verarbeitung von Depression, Leere, Sucht, Obsession und der Suche nach Liebe. Und der Platz zwischen den Zeilen ist randvoll mit weiteren Bedeutungsebenen und verborgenem Inhalt vollgestopft.

Schreibstil (♥)

Den Schreibstil habe ich als angenehm und flüssig erlebt. Ich flog nur so durchs Buch. Teilweise ist die Sprache beeinflusst vom Stil, den man in einer wissenschaftlichen Arbeit finden würde, dann wieder wird es persönlich oder esoterisch. Die Sprache enthält teilweise wunderschöne, wahre, poetische Stellen und Metaphern, viele Zitate habe ich mir fasziniert angestrichen. Häufig geht es sehr ins Detail, schonungslos und ohne Rücksicht auf Verluste. Immer wieder rutscht die Autorin hierbei ins Obszöne und Vulgäre ab – Freunde und Freundinnen schöner Worte (wie ich) werden bei manchem „hässlichen“ Wort zusammenzucken. Dennoch passt die teilweise schockierende Ausdrucksweise zum Buch und zu den Figuren.

„Leider war mein Theorem absoluter Müll, nicht zuletzt, weil ich selbst an einem überkomplizierten Verhältnis zur Leere, zum Vakuum, zum Nichts litt. Mein dringendstes Anliegen war es, die Leere zu füllen, denn ich fürchtete ständig, sie könnte mich umbringen. An anderen Tagen sehnte ich mich nach totaler Auslöschung, nach einem schmerzlosen, stillen Verschwinden.“ E-Book, Position 85

Protagonistin & Figuren (♥)

Am Anfang war ich mir nicht sicher, ob ich Lucy, die seit Jahren an ihrer Doktorarbeit über die griechische Lyrikerin Sappho und die Leerstellen in deren Werk scheibt und keinen Schritt weiterkommt, sympathisch oder unsympathisch finden sollte. Mit jeder gelesenen Seite fühlte ich aber mehr mit der teilweise egozentrischen, dramatischen und in ihrem eigenen Leid gefangenen Person mit und verspürte zunehmendes Mitleid. Ich hasse es eigentlich, wenn Menschen (besonders Frauen) untereinander gemein sind, jedoch fiel mir schnell auf, dass Lucy ebenso schonungslos sich selbst gegenüber ist, weshalb ich es ihr verzeihe. Auch der feine Humor, der immer wieder durchkommt, nahm mich für die Protagonistin ein. Geliebt habe ich Lucys grenzenlose Ehrlichkeit. Ihre Gedanken schildert sie oft unbedarft wie ein Kind, ohne Sinn dafür oder Interesse daran, ob eine Aussage gesellschaftlich akzeptabel ist oder sie verrückt erscheinen lässt. Sie beschönigt nichts, sondern hält ihre Eindrücke oft ohne Wertung fest. Nur für eine Sache habe ich Lucy wirklich gehasst: Für die Vernachlässigung des Hundes (auch wenn Lucy in ihrer Besessenheit und mit ihrem Tunnelblick bestimmt nicht voll zurechnungsfähig) ist.

"Ich eilte die Main Street hinunter, desorientiert und nach Pisse stinkend, vorbei an Leuten, die draußen beim Brunch saßen. Ich hatte das Gefühl, sie mit den Augen einer Obdachlosen zu sehen; ich hasste sie, zugleich schämte ich mich für mich selbst. Am liebsten hätte ich ihre Mahlzeit und ihre dummen Gespräche unterbrochen und mich mitten auf den Tisch gesetzt. Ich wollte sie zwingen, sich mit mir auseinanderzusetzen." E-Book, Position 1495

Auch die Nebenpersonen zeichnet die Autorin liebevoll, gibt ihnen Eigenheiten, Macken, Stärken und Schwächen. Sogar für Personen, die nur kurz vorkamen, entwickelte ich sofort ein Gespür und wusste sie einzuschätzen. Die Beobachtungen und Beschreibung der Protagonistin sind, was andere Figuren betrifft, meist präzise und auf den Punkt. Die wöchentlichen Treffen der Selbsthilfegruppe wurden beim Lesen für mich schnell zu einem Highlight. 

Spannung & Atmosphäre (♥)

Schon auf den ersten Seiten wird die Neugier geweckt und eine vage Sorge, dass diese Geschichte, Lucys Leben, vielleicht kein gutes Ende nehmen könnte. Aus diesem und vielen anderen Gründen wurde das Buch zu einem echten Pageturner für mich. Ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht, besonders ab dem Punkt, als der Meermann auftaucht.

Die Atmosphäre entspricht Lucys Gefühlsachterbahn, es wird abenteuerlich, melancholisch, deprimierend, amüsant (der Humor kommt oft unerwartet), verstörend und faszinierend. Der Autorin gelingt es ohne Frage, eine sehr dichte Atmosphäre im Buch zu schaffen, der man sich während des Lesens nur schwer entziehen kann. Daher auch meine Warnung: Wer gerade selbst mit Depressionen kämpft und auch sehr empfänglich für in Büchern vermittelte Stimmungen ist, sollte sich diesem Buch mit Vorsicht nähern. Lasst euch nicht von Lucy unter Wasser ziehen!

„Ich schrieb Claire:
‚Da gehe ich jetzt hin, mit einem fremden Typen aus dem Internet.‘
‚Selbst schuld‘, schrieb sie zurück.
‚Falls ich mich später nicht mehr melde, wird mein Leichnam dort zu finden sein.‘“ E-Book, Position 968

Geschlechterrollen (?)

Was die Geschlechterrollen betrifft, ist dieses Buch schwer einzuordnen. Einerseits wird mit Genderstereotypen radikal gebrochen, wenn Lucy schildert, dass für sie die Unterschiede zwischen weiblich und männlich verschwimmen, wenn sie Zeit mit Theo verbringt und wenn sie sich auf nächtliche Dates mit unbekannten Männern verabredet. Andererseits empfiehlt Lucy einer anderen Teilnehmerin der Selbsthilfegruppe, dass diese doch nur (schön formuliert) wieder einmal eine Nacht mit einem Mann verbringen müsse, um sich besser zu fühlen. Ich denke, dieses Buch kann mit normalen Maßstäben einfach nicht gemessen werden.

Mein Fazit

Der flüssige, gelungene Schreibstil, die ungewöhnliche, gnadenlos ehrliche Protagonistin, der feine Humor, die dichte Atmosphäre und die tiefgründige Behandlung ernster Themen konnten mich absolut überzeugen. Wenn man sich voll und ganz darauf einlässt, ist dieses Buch, das geschickt die Realität und die Mythologie verbindet, ein Pageturner voller wahrer, poetischer Zitate und vieler verborgener Bedeutungsebenen. Melissa Broders „Fische“ ist ein Roman, der mich mit voller Wucht getroffen hat und nicht mehr so schnell loslassen wird. Beim Lesen muss man vorsichtig sein, nicht im Ozean von Lucys Gefühlen zu ertrinken und nicht von ihren schweren Depressionen, Obsessionen, ihrer Leere und ihrer Suche nach der wahren Liebe unter Wasser gezogen zu werden. Für mich ein einzigartiges, berührendes, intensives Meisterwerk!

Empfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung für alle, die bereit sind, sich auf etwas Neues, gänzlich Ungewöhnliches einzulassen und die sich mit vulgären, obszönen Worten/Schilderungen arrangieren können.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Ausführung: 5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne
Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: ?

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien & ein Herz

Dieses Buch bekommt von mir 5 faszinierte Lilien und ein Herz und somit den Lieblingsbuchstatus!