In dieser Form ist Proust gut zu lesen
Bewertet mit 4.5 Sternen
Die Zeichnungen in "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Im Schatten junger Mädchenblüte (Teil 2)" fangen das Flair eines Sommerurlaubs an der See wunderbar ein. Die laut Buchbeschreibung im Roman beschriebenen Gemälde werden hier natürlich im Bild wiedergegeben. Die Kombination aus Zeichnung aus Textauszügen funktioniert so gut wie in den vorangegangenen Bänden.
"Ich konnte nur staunen, welch eine wunderbare Werkstatt unerhört reichhaltiger und vielseitiger Bildhauerkunst das französische Bürgertum doch war. Was für überraschende Typen, welcher Einfallsreichtum bei der Zeichnung der Gesichter, welche Entschiedenheit, welche Frische, welche Unverbrauchtheit der Züge! Die geizigen alten Bürger, die diese Dianen und Nymphen hervorgebracht hatten, schienen mir die größten aller Bildhauer zu sein."
"Aber ach! Auch in der frischesten Blüte kann man bereits die kaum wahrnehmbaren Punkte erkennen, die für den erfahrenen Geist vorzeichnen, was einmal die schon unabänderlich festgelegte Form des Samenstandes sein wird. Es genügte, neben diesen jungen Mädchen ihre Mutter oder Tante zu sehen, um die Entfernung abschätzen zu können, die unter Einwirkung der inneren Anziehungskraft eines gemeinhin schrecklichen Typus diese Züge in weniger als dreißig Jahren zurückgelegt haben würden ..."
Ein wenig aufgestoßen ist mir das beschriebene Verhalten der Personen in diesem Band: Standesdünkel, wohin man schaut (was der vermeintlich aufkeimenden Liebe nicht zuträglich ist, da die Kontaktaufnahme sehr umständlich zu sein scheint). Und gut, dass man sich als Urlaubsgast heutzutage nicht mal eben die "Fremdenliste" bringen lassen kann. Aber gerade "Im Schatten junger Mädchenblüte" bleibt ein Sittengemälde der Zeit, für das Marcel Proust (1871-1922) 1919 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde.