Rezension

Indien, weise und rückständig

Der goldene Sohn - Shilpi Somaya Gowda

Der goldene Sohn
von Shilpi Somaya Gowda

Zwei sehr unterschiedliche Lebensläufe, wie sie für das heutige Indien typisch sind, entwickeln sich vor dem Hintergrund von Traditionen und Möglichkeiten.

In einem indischen Dorf leben die Kinder Anil und Leena in Nachbarschaft. Während Anil zunächst zum Medizinstudium in die nächste Großstadt und im weiteren Verlauf seiner Ausbildung in die USA zieht, wird Leena mit einem Mann verheiratet, den ihre Familie für sie ausgewählt hat. 

Die indische Autorin Shilpi Somaya Gowda, bekannt durch ihren Roman „Die geheime Tochter“, entwickelt zwei Lebensläufe, die unterschiedlicher kaum sein könnten und doch typisch und stellvertretend für viele junge Menschen ihres Landes sind. Sie lassen teilhaben an den Möglichkeiten und den Zwängen, die für sie bereitstehen. 

In schlichter, nüchterner Sprache schildert sie Konsequenzen traditioneller Werte und Handlungsweisen. Gerade weil sie dabei weitgehend auf Erklärungen oder gar Analysen verzichtet, zeigt und vermittelt sie Nähe und Betroffenheit. Eine Wertung nimmt sie nicht vor, sondern überlässt sie dem Leser. Mit Hilfe von wunderbar passenden Metaphern wie der verlorenen Königsfigur oder dem Fehler des Tongefäßes gewinnen Sachverhalte an Dimension und ermöglichen tiefes Verständnis.

Aufgrund der sehr authentischen Darstellung sind die zahlreichen Personen mühelos auseinander zu halten. Im Rahmen ihrer Charakter und Rollen handeln sie meistens glaubhaft und konsequent, bleiben jedoch wegen ihres kulturellen Hintergrunds auf diffuse Weise fremd.

Leenas Schicksal zeigt die negative Auswirkung einer Mitgiftpraxis, wie sie im heutigen indien zwar verboten ist, aber noch immer praktiziert wird. Das ist teilweise schockierend, verstörend und aufwühlend. Auch Anil kann sich, selbst in Amerika, der gesellschaftlichen Erwartung nicht entziehen. Er trägt Indien in sich und muss sich erst eine Identität erabeiten, die das alte mit dem neuen Leben vereinbart.

Immer wieder geht es auch um Ratschäge, Empfehlungen und Entscheidungen. Und von der Verantwortung, die darus erwächst, sowohl anderen als auch sich selbst gegenüber.

In diesem Zusammenhang gebührt der Wahl des vorangesetzten Zitats von Balthasar Gracián, das auf dieses Thema hinweist, ein besonderes Lob.

Der Roman ist gut lesbar und jedem zu empfehlen, der sich für indische Kultur interessiert.