Rezension

Intensive, berührende und beeindruckende Familiengeschichte

Heimkehren
von Yaa Gyasi

Bewertet mit 4.5 Sternen

„Instinktiv hob Marjorie die Hand zur Kette um ihren Hals. Erst ein Jahr zuvor hatte ihr Vater sie ihr gegeben und gesagt, dass sie jetzt alt genug sei, um darauf aufzupassen. Sie hatte der alten Dame gehört und Abena vor ihr und davor James und Quey und Effia der Schönen. Mit Maame hatte es begonnen, der Frau, die ein großes Feuer gelegt hatte. Ihr Vater hatte erzählt, dass die Kette ein Teil ihrer Familiengeschichte sei, und sie dürfe sie nie ablegen oder weggeben.“ (S. 366)

‚Heimkehren‘ beginnt im Ghana des 18. Jahrhunderts und endet dort sowie in den USA der Gegenwart. Die Geschichte setzt mit Effia und Esi ein – Schwestern, deren Lebenswege in Ghana von Anfang an getrennt verlaufen. Es ist Effias Stamm, die Fante, der Hand in Hand mit den Briten das Geschäft der Versklavung Tausender betreibt. Über Jahrhunderte profitieren Effias Nachkommen davon oder verzweifeln daran, so wie ihr Enkel James. Dessen Urenkel wiederum, der kluge Yaw, muss erkennen, dass man in diesem gnadenlosen Spiel als Schwarzer nur verlieren kann, weil am Ende stets die Weißen profitieren.

„»Du solltest Geld sparen und nach England oder Amerika gehen, um dich besser ausbilden zu lassen. Vom Pult eines Lehrers aus kann man keine Revolution anführen«, sagte Edward. »Ich bin schon zu alt für eine Revolution. Außerdem – wenn wir uns von den Weißen ausbilden lassen, lernen wir nur das, von dem sie wollen, dass wir es lernen. Wir kommen zurück und bauen das Land so auf, wie es die Weißen wollen. Ein Land, das ihnen weiterhin dient. Dann werden wir nie frei sein.«“ (S. 307)

Esi, ihre Kinder und Kindeskinder kämpfen hingegen vom ersten Tag an in Amerika ums Überleben. Ihre willensstarke Tochter Ness nimmt jedes Leid auf sich, um ihr Kind zu retten. Ihr Enkel schuftet in den Kohleminen Alabamas für ein besseres Leben in Freiheit, das jedoch selbst seiner Tochter Willie im Harlem der Sechzigerjahre verwehrt bleibt. Und auch die letzte Generation dieses Buches sucht einen Platz in der Gesellschaft, wo sie nicht als Menschen zweiter Klasse angesehen wird.

„»Wir können nicht zurück, oder?« Sie blieb stehen und berührte seinen Arm. Sie sah ernster aus als zuvor, als würde ihr erst jetzt klar, dass er real war und nicht jemand, den sie träumte. »Wir können nicht irgendwohin zurückkehren, wo wir noch nie gewesen sind. Das ist nicht unser Platz. Der ist hier.« Sie machte eine ausholende Handbewegung, als wollte sie ganz Harlem, ganz New York, ganz Amerika umfassen.“ (S. 350)

In chronologischer Reihenfolge erzählt jeweils ein Nachkomme Effias und Esis im Wechsel in seinem Kapitel von den Geschehnissen. Zur besseren Übersicht befindet sich am Ende des Buches der Stammbaum. Gespannt folgt man den Entwicklungen der Familien in den unterschiedlichen Ländern. Und weil man immer auch bereits etwas über die Vorfahren weiss, hat man beinahe das Gefühl in jedem Kapitel zwar einen neuen Nachfahren kennenzulernen, der einem jedoch niemals ganz fremd ist. Einfühlsam erzählt Yaa Gyasi von Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit, die beiden Familienzweigen widerfährt und gewährt tiefe Einblicke in das Leben und Erleben ihrer Protagonisten. „Heimkehren“ ist ein intensiver Roman, der berührend und beeindruckend die Entwicklung einer Familie aus Ghana über den Zeitraum von 300 Jahren – von der Versklavung bis in die Gegenwart – erzählt. Ein großartiges Buch!

Yaa Gyasi wurde 1989 in Ghana geboren und ist im Süden der USA aufgewachsen, wo sie auch heute lebt. Ihr Debüt ‚Heimkehren‘, das in den USA wochenlang auf den Bestsellerlisten stand, wird in über 20 Sprachen erscheinen und ist bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden.