Rezension

Irreführender Titel und Klappentext

Heute will ich leben - Nora Price

Heute will ich leben
von Nora Price

Bewertet mit 5 Sternen

In "Heute will ich leben" geht es um die 16jährige Zoe, die völlig unvorbereitet von ihrer Mutter in eine Einrichtung namens "Twin Birch" gesteckt wird. Sie weiß bei ihrer Ankunft dort weder, wieso sie dort ist, noch, um was für eine Art Einrichtung es sich überhaupt handelt. Nach und nach beantwortet sie sich diese Fragen anhand ihrer eigenen Erfahrungen selbst, indem Sie sich Notizen zum Tagesablauf macht und Briefe an ihre beste Freundin Elise schreibt. 

Da die Protagonistin und Ich-Erzählerin in ihrer Selbst-Wahrnehmung gestört ist, ist ihre gesamte Perspektive anfangs extrem verzerrt und verschwommen und auf reine Beobachtung reduziert, wobei sie sich selbst völlig ausklammert. Im Laufe des Aufenthalts in Twin Birch und im Zuge der Erinnerungen, die sie in ihren Briefen fest hält, wird Zoe (und damit auch dem Leser) immer klarer, was geschehen ist und welche Rolle sie selbst dabei inne hat. 

Letztlich ist es ein Hin und Her zwischen Erlebnissen mit ihrer essgestörten Freundin Elise in der Vergangenheit und den täglichen Erfahrungen mit ihren fünf magersüchtigen Mitpatientinnen in der Gegenwart. Während der ebenfalls geschilderten Therapiesitzungen greift dann beides ineinander. Inwieweit Zoe selbst tatsächlich magersüchtig ist, lässt sich anhand der Schilderungen nur erahnen.

Die Autorin hat sehr gut auf den Punkt gebracht, wie sehr zwei beste Freundinnen voneinander abhängen, wie sehr sie sich gegenseitig in ihrem Tun und Lassen (wider jede Vernunft) beeinflussen, und worin der Unterschied zwischen Magersucht und abnormem Essverhalten besteht. Die Ursachen und damit auch die Behandlungsmöglichkeiten und Erfolgsaussichten sind einfach völlig unterschiedlich. Auch fand ich den Umgang der sechs Patienten in Twin Birch untereinander sehr bezeichnend - sowohl für weibliche Teenager um die 16 im Allgemeinen, als auch für Essgestörte im Besonderen. 

Was den Therapieansatz hinsichtlich der Behandlung von Magersucht in Twin Birch anbelangt, so halte ich ihn langfristig nicht für erfolgversprechend. Wenn die Patienten dort tatsächlich so krank sind, wie geschildert wird, so fehlt definitiv die ärztliche Begleitung. Magersüchtige Patienten unter Gruppendruck zu doch eher unkonventionellem Essen in großen Mengen zu zwingen, ist ganz sicher nicht das Mittel der Wahl in diesem Zusammenhang. 

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, was vielleicht auch daran liegt, dass ich selbst genug Erfahrungen gesammelt habe und keine großen Erwartungen hatte. 

Besonders gut hat mir gefallen, dass das Buch nicht den Einheitsbrei wie die meisten Lektüren zum Thema Essstörung liefert (Nulldiät/exzessiver Sport - Zusammenbruch - Therapie - Heilung bzw. Ausblick darauf). Letztlich geht es in dem Buch auch im Grunde gar nicht primär um Magersucht und sowohl der Titel als auch der Klappentext sind dahingehend irreführend. Es geht um ein Mädchen, dass sich so sehr von ihrer besten Freundin abhängig gemacht und in deren Schatten gelebt hat, dass es gar nicht gemerkt hat, wie sehr es sich von sich selbst entfernt und gelöst hat. Es geht vor allem um ihre Selbstfindung, Neudefinition und Selbstbehauptung in einer Gruppe.

Wer einen Erfahrungsbericht zum Thema Essstörung erwartet, der wird enttäuscht!Auch ist das Buch ungeeignet für akut Betroffene, weil es zum Teil ziemlich triggert. Aber für Ehemalige und als Einstieg ins Thema für Unbedarfte ist es sehr gut geeignet.