Rezension

Jeder muss eine Entscheidung treffen, ganz alleine, seine eigene!

Bis wieder ein Tag erwacht - Charlotte Roth

Bis wieder ein Tag erwacht
von Charlotte Roth

Bewertet mit 5 Sternen

Buch: 5 von 5 Sternen
Hörbuch: 4 von 5 Sternen 

Das letzte Wort ist gesagt, der letzte Ton verklungen und ich sitze da und bin überwältigt von meinen Gefühlen. Ein tolles Buch, ein wirklich sehr, sehr tolles Buch!

Doch ich fange jetzt mal am Anfang an...

Zu Beginn des Buches kam mir die Anfangsszene zwischen Nathalie und Alwin befremdlich vor. Wer war dieser Nazi Alwin, der so schroff und abfällig mit der französischen Frau Nathalie sprach, sie hintergehen wollte und sie als Hure bezeichnete? Ich konnte beide nicht greifen, hatte sie nur schemenhaft vorm inneren Auge und war bereit für ihre Geschichte...

Für die Geschichte der Kinder, die die Konsequenzen des 1. Weltkrieges erlebten und eine neue Zukunft aufbauen wollten. Für Kinder, die sich noch an die vergangene, schlimme Zeit erinnern konnten, da in jeder Familie die Lücke von fehlenden geliebten Menschen sichtbar war. 

Wundervoll und berührend erzählt Charlotte Roth vom Leben "der fünf Finger einer Hand" und schlägt den Rahmen von 1918 bis August 1944, als Paris seine Befreiung von den deutschen Besatzern feierte. Die fünf Finger der Hand, wie sie sich damals nannten, Nathalie und Salah, Didier und Fabrice und auch Delphine, alle sie lebten und liebten in Frankreich in einer Zeit, in der Freiheit und Entscheidungen nicht immer selbstbestimmt gefällt werden konnten oder durften. Manch eine Kreuzung und Gabelung, die auf dem Lebensweg eingeschlagen werden musste, führte zu schweren Entscheidungen und ihren Folgen. 

Auf der anderen Seite, in Deutschland, hat Alwin nur seine Schwester Dörte und seine Mutter. Nachdem sein Vater im 1. Weltkrieg gefallen war, musste er die Rolle des kleinen Vati übernehmen. Eine Rolle, die von diesem kleinen Jungen sehr viel abverlangte, einem kleinen Menschlein, der selbst noch liebe Worte und kindliche Streicheleinheiten gebraucht hätte.

Als Leser werden wir in das Leben dieser jungen Menschen gezogen, begleiten sie durch die schrecklichen Geschehnisse, die leider Geschichte geschrieben haben und stehen parat, wenn ihre Wege sich kreuzen. 

Charlotte Roth schreibt episch, detailliert und sehr bildhaft. Es war ein Genuß und ich wollte immer mehr! Mehr von der Kindheit der agierenden Romanfiguren, mehr von all ihren Erlebnissen, Geheimnissen und Beziehungen. All das erweckte die Autorin zum Leben und machte das Buch unvergesslich.

Besonders gelungen empfand ich den Erzählkreis, den die Autorin um die jeweilige Figur, die gerade im Fokus stand, gezogen hatte. Dadurch offenbarte sich der Charakter, und ein weiteres Puzzelteil war bereit, um das Gesamtbild entstehen zu lassen. Puzzelteil, für Puzzelteil setzte sich das Buch vor mir zusammen, bis hin zum Ende, das voller Traurigkeit immer noch überraschen und ein Lächeln aufs Gesicht zaubern konnte.

Durch eine außergewöhnliche Erzählkunst und schöne Sprache wird dem Leser die Aussage des Buches immer vor Augen und Ohren geführt: 
"Nie wieder Faschisten! Nie wieder Faschismus! Es gibt keine netten Nazis!" Gerade in dieser heutigen, seltsamen Zeit, in der sich rechtsradikales Gedankengut versucht wieder einzuschleichen, unterzumischen und zu tarnen, müssen so Bücher wie dieses hier präsent sein, ermahnen und in Erinnerung rufen, dass das, was einmal war, nie mehr wieder geschehen darf! Liebe Charlotte Roth, DANKE dafür!
 
Bewegt bleibe ich zurück, das Ende knüpft an den Anfang an, lässt keine Fragen offen und das Puzzle ist fertig gelegt. Und im Ohr hallt mir immer noch nach:
 Jeder muss eine Entscheidung treffen, ganz alleine, seine eigene! Fazit:
Ein historsischer Roman, der einem das Herz öffnet und darin die Sehnsucht nach Paris pflanzt. Ein Roman, der gekonnt geschichtliche Hintergründe und bekannte Personen mit der Geschichte und den Figuren der Autorin vereint. Ein Buch tiefer Gefühle, von Liebe, Freundschaft und dem streben und sehnen nach Freiheit und Glück. Ein Buch, das nicht vergessen lässt und uns jeden auf den eigenen Prüfstand stellt. Ein absolutes Lesehighlight für dieses Jahr!

Zum Hörbuch:
Die Sprecherin Elisabeth Günther machte das Buch lebendig, die Charaktere greifbar und es gelang ihr, dass ich mich tief in die Geschichte fallenlassen konnte! Mit ihrer Stimme schaffte sie zu jederzeit eine angemessene Atmosphäre, die das Buch zu einem besonderen Hörgenuss machte.
Dennoch habe ich einige Passagen mehrere Male hören müssen, da ich manch einen Zeitsprung während des Hörens nicht gleich erfasst hatte. Zudem hätte ich mir gerne ein paar Sätze markiert, um dann, jetzt im Nachhinein, die eine oder andere Stelle nachlesen zu können. Deshalb gibt es für dieses Buch eine klare Lese- und weniger eine Hörempfehlung.