Rezension

Kafka schwimmt.

Kafka - Reiner Stach

Kafka
von Reiner Stach

Bewertet mit 5 Sternen

Um etwas von Kafkas Werken zu verstehen und nicht nur stirnrunzelnd den Kopf zu schütteln oder andersrum ehrfurchtsvoll zu Boden zu sinken, sollte man etwas von dessen Leben wissen. Solches Wissen zu vermitteln, ist Reiner Stach wahrscheinlich wie kein anderer geeignet.// Der vorliegende Band ist Teil 1, chronologisch von Franzens Leben aus betrachtet, einer Trilogie.

Franz Kafka (1883 bis1924) liebte das Wasser, es war sein Element. Er fühlte sich darin frei und gelöst. Sogar die Urlaubsroute lässt er sich vom kühlenden und erfrischenden Nass diktieren. Auf einer ausgiebigen Urlaubsreise, zusammen mit Max Brod wählen die beiden Freunde eine Route, „die nicht von alpinen Gipfeln, sondern ausschließlich von Gewässern vorgegeben war: Zürichsee, Vierwaldstätter See, Lago di Lugano, Lago di Como, Lago Maggiore.“

Franz Kafka sehnt sich in allen Belangen nach Freiheit, doch ist sein Alltag einem strikten Reglement unterworfen, selbst als er nach unendlich langwierigen Berufsfindungswirren endlich Jura studiert und nach weiterem Zickzackkurs in der relativ sicheren Prager Anstalt für Arbeiterschutz und Unfallversicherung landet. Der Büroalltag ist nicht so wie heute, Urlaub ist rar und die Arbeit spitzfindig, fordernd und langweilig, die Hierarchie streng. Zwänge überall. Da muss Kafka raus in die Natur, wenn immer es geht, er wandert, stromert, schwimmt!

In der frühesten Kindheit vermisst er Nestwärme. Zwar wird er geliebt und gebraucht, denn der erstgeborene Sohn ist Lebenserfüllung für die rührigen Eheleute Herman und Julie Kafka, die sich mühsam in den Mittelstand arbeiten und dort festkrallen. Damit die Kinder es einmal besser haben, rackern sie sich ab und lassen deshalb Franz die beste Ausbildung zuteil werden, die sie ermöglichen können, freilich haben sie von Anfang an keine Zeit für ihn, weil beide Elternteile voll eingespannt sind im Aufbau und in der Erhaltung ihres Kurzwarengeschäfts. Da auch die Kindermädchen und Gouvernanten Franz Kafkas häufig wechseln, weil Herman Kafka keine gut genug bzw. sparsam genug ist, ist Kafkas früheste Kindheit eine Aneinanderreihung von traumatischen Verlusten und Ängsten, eine Hypothek, mit der er niemals ganz fertig wird.

Freiheit gibt es nur in geistigen Sphären. Die Bücherwelt eröffnet ihm einen Zugang zu etwas Eigenem. Mit Musik kann er nicht so viel anfangen, mit ihr zu verschmelzen und innerlich auszusteigen, wie es seinem Freund Max möglich ist, bleibt ihm fremd.

Charakterisch für Franz Kafkas Ansprüche und Bemühungen bezüglich eigener Werke schreibt Reiner Stach:

Kafka hatte sich bereits [mit frühzeitigem Schreiben] etwas vorgenommen, ... was Walser wohl niemals in den Sinn gekommen wäre: den unmittelbaren Zugriff auf das Imaginäre.“

Reiner Stach hat im ersten Band seiner exzellenten Kafkabiographie weit ausgeholt und „Bild und Ton“ des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts veranschaulicht, den Zeitenläufen, in denen Kafka heranwächst. Da fehlt wenig. In Prag als einem Teil der habsburgischen Monarchie sind die politischen Verhältnisse unausbalanciert und schwierig. Das Deutschnationale begehrt gegen das Unabhängigkeitsstreben der Tschechen auf. Als Angehörige des Judentums hat man immer schon einen problematischen Stand in der Historie gehabt. Und was glaubt man eigentlich selber, wer man ist? Deutscher, Tscheche, Jude? Und wenn ja, warum?

Die Zeit ist im Umbruch. Kafka erlebt das Aufkommen des Films, der Automobilisierung, der Fliegerei und dgl. mehr, aufregende Welten, die sich erschließen, immer begleitet von den geisteswissenschaftlichen neuesten Strömungen, Anfänge der Naturheilkunde, Vegetarismus, Relativismus, Bäderkultur. Kafka erlebt die Großen seiner Zeit oft hautnah. In all dem heißt es, sich nicht durch jeden Wind beeindrucken zu lassen und seine eigene Linie zu finden, Schrittchen für Schrittchen und an den Schwierigkeiten nicht zu zerbrechen, wobei erste Anklänge an ein mögliches Scheitern bereits dunkel tönen.

Die Biographie von Reiner Stach zu lesen, ist ein Genuß. Sie führt den Leser nicht nur durch Kafkas inneres Leben, sondern genau so durch seine Zeit und durch die Geschichte Prags. Manchmal ist Reiner Stach ein wenig kompliziert im Ausdruck. Angesichts dessen, wie er ein Riesensujet letztlich doch nur auf ein paar Seiten höchst kunstvoll zusammenfasst, fällt dies jedoch nicht ins Gewicht.

Die frühen Jahre umfassen den Zeitraum von 1883 bis 1911.

Fazit: Eine Meisterleistung.

Kategorie: Biographie
Verlag, S. Fischer, 2014

Kommentare

Steve Kaminski kommentierte am 08. Juni 2016 um 16:50

Eine schöne, sehr gut geschriebene Rezension!