Rezension

Kain und Abel...

Nachsommer - Johan Bargum

Nachsommer
von Johan Bargum

Bewertet mit 5 Sternen

Ein letzter Abend im Sommerhaus seiner Kindheit - bald muss Olof die Villa in den südfinnischen Schären für immer verlassen. Carl, sein jüngerer Bruder, hat sie von der Mutter vermacht bekommen - er, der stetes ihr Liebling war und in dessen Schatten Olof bis heute steht.
 

"Ich bin durch sämtliche Zimmer gegangen, habe ein kurioses Ding nach dem andern in die Hand genommen, sie eine Weile darin gewogen und dann wieder zurückgestellt. Sie lassen sich nicht retten. Auf eine eigenartige Art hängt jedes einzelne von ihnen mit den anderen zusammen. Wenn man sie voneinander trennt, werden sie absurd und bedeutungslos." (S. 17)

 

Nicht allein deshalb verbindet die Brüder eine komplizierte Beziehung, geprägt von Konkurrenz und unausgesprochenen Konflikten, deren Wurzeln bis weit zurück in ihre Jugend reichen. Jahrelang gingen sich die beiden aus dem Weg, und als sie nun am Sterbebett der Mutter wieder aufeinander treffen, steigern sich die Spannungen zwischen ihnen erneut.

Erzählt wird hier zum einen von dem Zusammentreffen der Brüder am Sterbebett der Mutter, gemeinsam mit einigen anderen Figuren, von dem Alltag drumherum mit Bootstouren, Angelausflügen und Gewitterabenden, zum anderen von ausgewählten Episoden aus ihrer Vergangenheit. Dabei erfolgt die Verschränkung der Zeitebenen so gekonnt, dass durch den Kontrast der alten, kaum vernarbten und immer noch nachwirkenden Verletzungen sowie des aggressiven Schweigens der Brüder in der Gegenwart der Eindruck einer Eskalation in Zeitlupe entsteht.

 

"Weißt du noch, dass Vater genau auf dieselbe Art gestorben ist?", fragte ich ihn. Er schraubte den Schlüssel fest um die obere Mutter, hob den Hammer und schwang ihn ein paarmal urch die Luft. "Und du willst behaupten, du weißt es noch, oder was?" Ich fragte mich, wie er wissen konnte, dass ich es nicht mehr wusste. "Ich bin schließlich en par Jahre älter als du." Er lachte trocken auf, ein Schnaufen. "Halt fest!" - "Wo?" Er deutete auf den Schaft des Schraubenschlüssels. "Den muss man wohl kaum festhalten, oder?" Er sah mir direkt in die Augen. "Hast du Schiss?" Ich hockte mich hin, packte den Schaft so nah wie möglich an der Mutter. "Du bist doch weggerannt, zum Teufel", sagte er. Dann pfiff es dicht an meinem Kopf vorbei. Der Hammer traf mit einem Knall eine Daumenbreite von meinen Händen entfernt auf." (S. 48 f.)

 

Johan Bargum präsentiert in diesem schmalen Roman eine Familiengeschichte von existenzieller Wucht, die einen ungeheuren Sog entwickelt. Jede Rückblende und jede kleine Enthüllung in der Gegenwart wandelt und vervollständigt das Wesen der Figuren. So empfindet man schlussendlich sogar für Olofs zornigen und ungerechten Bruder Carl zunehmend Sympathie, da sein Charakter nicht nur Härte ausstrahlt, sondern letztlich auch Hilflosigkeit.

Olof fungiert hier als nüchterner Ich-Erzähler, der Stil ist klar, schlicht und schnörkellos. Die geschilderten subtilen Dramen werden nahezu beiläufig berührt, ebenso wie die existenziellen Fragen, die dadurch aufgeworfen werden: 'Weiß man eigentlich jemals, was vor sich geht?' Vieles schwingt zwischen den Zeilen mit und macht das Lesen dadurch um so vieles intensiver, als es die bloßen Worte könnten. Johan Bargum, der zu den bekanntesten Autoren Finnlands zählt, erscheint hier als Meister der Reduktion. In wenigen Strichen entwirft er eine ungeahnt intensive Erzählung, häufig durchzogen von einem melancholischen Ton, jedoch auch von unerwartet heiteren und leichtfüßigen Szenen.

Das Ende ist offen, lässt mich aber nicht unzufrieden zurück. Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit lassen sich nicht ausräumen und wiedergutmachen, was die Zukunft bringt, wird sich zeigen. Einzig gilt, sich nicht vor dem Leben zu verstecken.
Für mich eine überraschend bereichernde Lektüre!

© Parden