Rezension

Kann man einen Menschen einfach so ersetzen?

Ich bin Tess - Lottie Moggach

Ich bin Tess
von Lottie Moggach

Bewertet mit 4.5 Sternen

"Die Menschen interessieren sich vor allem für sich selbst und kümmerten sich nicht groß um andere, nicht mal um ihre engsten Freunde. Dann aber, im nächsten Moment, ergriff mich die Furcht, völlig unvorbereitet zu sein und sofort entlarvt zu werden. Zwischen diesen beiden Gefühlen pendelte ich hin und her, wie ein Lautstärkeregler, der zuerst viel zu niedrig und dann auf ohrenbetäubend laut eingestellt war."
S. 137

Normalerweise schreibe ich nicht den Klappentext eines Buches ab. Doch bei "Ich bin Tess" mache ich eine Ausnahme, da ich diesen so gelungen finde:

Würdest du dein Leben aufgeben, um das eines anderen zu übernehmen?

Leila hat Tess nie zuvor getroffen.
Doch sie weiß mehr über sie als irgendjemand sonst.

Tess hat Leila nie zuvor getroffen.
Doch wenn sie unbemerkt aus der Welt scheiden will,
muss sie Leila ihr Leben anvertrauen.

Zu Beginn ist es leicht für Leila, sich online als Tess auszugeben. Niemand durchschaut ihr Spiel.
Doch wie lange lässt sich eine solche Lüge aufrechterhalten?

Okay, nehmen wir uns einmal dieses hypothetische Dilemma vor: Eine Frau leidet an einer Krankheit, die an und für sich nicht lebensbedrohlich ist, aber ihre Lebensqualität stark einschränkt und auch nicht heilbar ist. Nach reiflicher Überlegung kommt sie zu dem Schluss, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Aber sie weiß, dass sie damit ihrer Familie und ihren Freunden großen Kummer bereiten würde und handelt daher nicht. Dennoch wünscht sie sich verzweifelt den Tod und an dieser Einstellung ändert sich auch über die Jahre nichts. Irgendwann kommt sie zu dir und sagt, ihr sei ein Weg eingefallen, wie sie ihren Plan in die Tat umsetzen kann, ohne ihre Familie und ihre Freunde unglücklich zu machen, aber dafür brauche sie deine Hilfe. Was würdest du tun? Würdest du ihr helfen?

Quelle: script5 Verlag

Schon als ich das Buch bei den Neuerscheinungen im Herbst entdeckt habe, wollte ich es unbedingt lesen. Und das Warten hat sich gelohnt!

Gegenwart wechselt sich mit Vergangenheit ab, bei Leilas Erzählung, die aus der Ich-Perspektive geschrieben wird. Momentan befindet Sie sich in einer Hippikommune und schreibt dort in Rückblenden ihre Erinnerungen nieder.
Dabei ist ihre Art eigenbrötlerisch und distanziert, so dass Sie mir oftmals gefühlskalt und wie ein Roboter vorgekommen ist, was allerdings nicht bedeuten soll, dass ich ihr Vorgehen nicht nachvollziehen konnte - ganz im Gegenteil. Aber gerade diese Distanz ist es, die der Geschichte gut getan hat und zu etwas besonderem macht. Diesen Freiraum habe ich genutzt, um meine eigenen Gefühle zu reflektieren und schweifen zu lassen.

"In jener Phase gab es einfach hin und wieder mal einen Moment, in dem es passte, dass ich mehr als ich schrieb und nicht in meiner Rolle als Tess. Es waren auch bloß Kleinigkeiten und, wie gesagt, hauptsächlich ließ ich Dinge weg: ihre Irrationalität, ihren Hang zum Mystizismus. Ich antwortet direkt auf Connors E-Mails, anstatt Stunden und gar Tage zu warten. Ich faselte nicht ewig von Gefühlen und Träumen."
S. 197

An dem Buch hat mir besonders der Bezug zu unserer heutigen Lebensweise gefallen und die Fragen die es aufwirft. Wie sehr lassen wir uns von der heutigen Technik beeinflußen und welche Auswirkungen hat das auf unser Leben? Oder im besonderen: Kann man ein Leben digital für jemand anderen führen, ohne das es unbemerkt bleibt?

"All diese Menschen und Dinge würden in einer Welt weiterexestieren, in der es mich nicht mehr gab, und niemand würde noch an mich denken. Und wenn das so war, worin lag dann überhaupt der Sinn meiner Existenz?"
S. 185

Die Idee zu ihrem ersten Buch kam Lottie Moggach vor einigen Jahren, als sie viel zu viel Zeit mit Facebook verbrachte.
Quelle: Skoobe