Rezension

Kein Thriller, aber trotzdem großartig

Dark Memories - Nichts ist je vergessen - Wendy Walker

Dark Memories - Nichts ist je vergessen
von Wendy Walker

"Ich glaube, ich bin ein wenig zu weit vorgeprescht. Lassen Sie mich ein Stück zurückgehen in der Geschichte." (Seite 56)

Anfangs hatte ich große Schwierigkeiten mit Nichts ist je vergessen - Dark Memories, denn es wird als Thriller des Jahres angepriesen und dementsprechend (hoch) waren auch meine Erwartungen. Dabei ist dieses Buch zwar ein Psychologischer Spannungsroman, aber keinesfalls ein Thriller.  

Protagonist ist nicht - wie man vermuten könnte - die vergewaltige Jenny Kramer, sondern ihr behandelnder Psychotherapeut Dr. Alan Forrester, der die ganze Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt. Dabei geht er sehr analytisch vor, versucht seine Geschichte zu strukturieren und den Leser an das Geschehen heranzuführen. Sein Tonfall bleibt dabei sehr distanziert und meistens gefühlskalt (obwohl wir als Leser manchmal einen Geühlsausbruch seinerseits miterleben). Aussagen von Jenny, ihren Eltern oder der Polizei werden zunächst als Gesprächsprotokolle in Kursivschrit wiedergegeben. Später finden dann tatsächlich Dialoge zwischen Forrester und den Figuren statt, allerdings werden auch hier die Aussagen der Gesprächspartner in Kursivschrift abgedruckt. Immer jedoch hat man das gefühl, Alan Forrester gegenüber zu sitzen, er siezt den Leser sogar, leitet ihn. Manipuliert ihn vielleicht genauso, wie er möglicherweise auch Jennys Erinnerung manipulieren könnte.

Die ganze Geschichte über bleibt eine große Distanz zu den Figuren. Zu Alan Forrester, weil ihm jegliche Empathie zu fehlen scheint, obwohl er anfangs etwas anderes behauptet. Und zu Jenny Kramer und ihrer Familie, weil wir all das, was sie erlebt, nur nacherzählt bekommen. Als säßen wir Alan Forrester gegenüber, der die Patienakte im Schoß liegen hat und uns von den Geschehnissen berichtet. Normalerweise stört mich diese Distanz zu den Figuren, aber hier macht sie die Geschichte zu etwas Besonderem und alles andere wäre ohnehin unpassend gewesen. Die Distanz, der empathielose, gefühlskalte Ich-Erzähler, das protokollartige Erzählen, all das ist es, was diesen Roman ausmacht. 

Man darf keinen Psychothriller erwarten, der einem den Atem raubt, man darf keinen actiongeladenen Nervenkitzel erwarten, denn all das ist dieser Roman nicht. Es ist Roman voller subtiler Spannung, voller psychologischer Abgründe, ein manipulativer Roman, dessen wahrer Kern nicht auf den ersten und auch nicht auf den zweiten Blick ersichtlich ist. Wenn man all das im Vorhinein weiß und nicht mit falschen Psychothrillererwatungen an den Roman herangeht, dann ist er großartig, dann jagt er einem einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. 

(c) Books and Biscuit