Rezension

Kleines Buch ganz groß

Eine Geschichte der Zitrone - Jo Cotterill

Eine Geschichte der Zitrone
von Jo Cotterill

Bewertet mit 5 Sternen

INHALT:
Einsamkeit ist seit dem Tod ihrer Mutter für Calypso zum Normalzustand geworden. Abgeschottet lebt sie zusammen mit ihrem Vater, einem Schriftsteller, der sich die meiste Zeit über in seinem Arbeitszimmer einigelt und an seinem Lebenswerk „Eine Geschichte der Zitrone“ feilt. Als kluges, interessiertes Mädchen füllt Calypso ihr Leben mit Büchern, in denen sie sich wohl und geborgen fühlt, während die Regeln von Freundschaft und Liebe unbekannt, unberechenbar und riskant erscheinen. Aber dann gibt es da plötzlich Mae, die Calypsos Freundin sein will.

MEINUNG:
Das Buch hat viele Facetten, die zu einem runden und wunderschön erzählten Ganzen zusammenfinden. Zentral ist das Thema Depression. Hier insbesondere die Frage: Wie ist das für Kinder, wenn ein Elternteil an einer Depression erkrankt ist? Der Leser nimmt sehr glaubwürdig die Perspektive der 11jährigen Calypso ein, die begreift, dass bei ihr zuhause irgendetwas nicht so richtig stimmt, aber nicht fassen kann, was das eigentlich ist. So wird die Problematik zwar eher angerissen als tiefgründig durchleuchtet, was allerdings völlig richtig erscheint, da die kindliche Auffassungsgabe Calypsos das Ausmaß gar nicht erfassen KANN. Und genau darum geht es.

Der Ton ist abwechslungsreich – von traurig, über bitter bis leicht und schön, vornehmlich aber melancholisch. In das Gefühl der Wut über den Vater, der seine Tochter fast völlig sich selbst überlässt, mischt sich das Verständnis, dass Betroffene weder etwas für ihre Depression können, noch immer in der Lage sind, diese selbst zu erkennen oder sich Hilfe zu holen.
Jo Coterill bleibt jedoch nah am Kind, an Calypso, und deren ambivalenten Gefühlen – zwischen Sorge um den Vater, Überforderung, absoluter Ratlosigkeit, Unzugehörigkeit, Andersartigkeit und gleichzeitig dem Wunsch nach Normalität und Verantwortung-abgeben-dürfen.

Völlig unverkrampft lässt die Autorin helle Hoffnungsstrahlen über ihre Geschichte scheinen, indem sie aus der Rückzugswelt der Bücher letztlich Calypsos Brückenschlag zum Leben gelingen lässt. Über die zarte, aber schnell intensiver werdende Freundschaft zu der lebenslustigen, buchbegeisterten Mae mit ihrer völlig normalen, lauten Familie bekommt Calypso eine Ahnung davon, dass Stärke nicht aus Abhärtung und Abkapselung entsteht, sondern aus der Öffnung gegenüber dem Leben und den Menschen. Mit allen Enttäuschungen, die da möglich sind.

Fazit: Thema Depression im leicht erzählten, hoffnungsvollen bibliophilen Gewand. Anrührend und deutlich, ohne abwertend zu sein. Ein kleines, ganz großes Buch!