Rezension

Komplex und psychologisch

Unter der Mitternachtssonne - Keigo Higashino

Unter der Mitternachtssonne
von Keigo Higashino

白夜行 erschien zwischen Januar 1997 und Januar 1999 als monatlicher Fortsetzungsroman im Magazin Subaru. Die Handlung setzte sich aus Kurzgeschichten und isolierten Einblicken in verschiedene Details des Falls zusammen, wobei das Augenmerk wechselnd auf zahlreichen Protagonisten lag.

Vor der Veröffentlichung als Kriminalroman in einem Einzelband überarbeitete Keigo Higashino die Struktur von Grund auf. Meines Erachtens hat die Geschichte jedoch immer noch etwas stark Episodenhaftes.

Man merkt 白夜行 seine Ursprünge am stärksten an, wenn es um die Charaktere geht. Ein Leser, der über zwei Jahre hinweg einen Fortsetzungsroman liest, bekommt Handlung und Protagonisten häppchenweise vorgesetzt. Er hat Zeit und Muße, diese besser kennenzulernen, deswegen sind auch über 30 (!!) für die Handlung wichtige Personen kein großes Problem.

In einem Roman, den der Leser komprimiert in wenigen Tagen liest, wird diese Anzahl jedoch plötzlich überwältigend. Dazu kommt, dass die japanischen Namen es dem westlichen Leser schwerer machen, die Charaktere zu unterscheiden. Yukiho, Yosuke, Yuishi – nach wenigen Seiten wurde mir klar, dass ich ohne Notizen schnell den Überblick verlieren würde. Ich erstellte mir beim Lesen daher eine Namensliste, die mir immens dabei half, der Geschichte zu folgen. 

[ Interessierte Leser können die Namensliste auf meinem Blog "Mikka liest von A bis Z" finden. ]

Hinweis: Inzwischen habe ich erfahren, dass dem Printbuch (ich habe das eBook gelesen) ein Lesezeichen mit den 19 wichtigsten Charakteren beiliegen soll.

Der Klappentext klingt so, als sei Kommissar Sasagaki der zentrale Protagonist, tatsächlich tritt er für einen Großteil des Buches kaum in Aktion. Er ist eher die graue Eminenz im Hintergrund, während die Handlung von Charakter zu Charakter springt.

Deren Beziehungen verweben sich im Verlaufe des Buches zu einem zunehmend komplizierten Netz. Diejenigen, die hinter den Kulissen die Fäden ziehen, sind Meister der Manipulation – jedes Lächeln, jeder Akt scheinbarer Freundlichkeit kann eine Waffe sein. Auch wenn die Ermittlungen im Mordfall über viele Kapitel keinerlei Fortschritte machen, entwickelt die Geschichte eine hohe psychologische Spannung.

Interessant fand ich dabei besonders die Einblicke in Lebensgefühl, Werte und Umgangsformen im Japan der 80er und 90er Jahre. Vieles bleibt in leise lächelnder Höflichkeit ungesagt, dennoch gibt es geheime Liebschaften, Intrigen und Kriminalität – manche Nebenhandlung wirkt fast wie eine Seifenoper.

Vor allem ist “Unter der Mitternachtssonne” jedoch ein brillant konstruierter Thriller, der sich hauptsächlich um das dreht, was hinter den schönen Fassaden vor sich geht.

Die Handlung ist komplex und gibt ihre Geheimnisse nicht leicht preis. Der Mord an Yosuke Kirihara ist das Leitmotiv dieser Geschichte, die sich über zwei Jahrzehnte erstreckt, aber viele Handlungsstränge sind erst auf den zweiten oder dritten Blick damit verbunden. Erst kurz vor dem überraschenden Finale fällt das letzte Puzzleteil an seinen Platz: das Motiv.

Auch wenn das Lesen etwas mühsam ist, in meinen Augen lohnt sich die Mühe.

Der Schreibstil bleibt selbst in dramatischen Situationen meist ruhig und klar, hier liegt viel zwischen den Zeilen. Besonders die Charaktere werden mit leichter Hand gezeichnet; nach meinem Empfinden muss man als Leser die Lücken ergänzen und sich aus dem Zusammenhang ein genaueres Bild der Charaktere erschließen. Das gelingt dem Autor jedoch sehr gut, mir werden einige davon wohl noch länger in Erinnerung bleiben.

FAZIT

Japan im Jahr 1973: Ein Pfandleiher wird ermordet, dessen Mörder bleibt unerkannt – Kommissar Sasagaki gibt den Fall in den nächsten 20 Jahren jedoch niemals auf. Während Sasagaki zunächst in den Hintergrund tritt, folgt die Handlung den Menschen im Umfeld des Opfers, bis sich aus dem Geflecht ihrer Beziehungen ein Muster entwickelt.

Aufgrund der zahlreichen Charaktere und deren japanischen Namen ist der Thriller nicht immer leicht zu lesen, aber er belohnt den Leser mit einer psychologisch dichten, komplexen Geschichte.