Rezension

Leben ohne Filter und Inszenierung

Lied der Weite - Kent Haruf

Lied der Weite
von Kent Haruf

Bewertet mit 4 Sternen

Kent Haruf hat mit 'Lied der Weite', im englischen Original 'Plainsong', ein perfektes Portrait der ländlichen Bevölkerung Amerikas im Ausklang des 20. Jahrhunderts geschrieben.

Wie ein gestochen scharfes Portrait eines Menschen in schwarz weiß, das jede Falte, jede Pore und jede Wimper zeigt, ist auch dieser Roman kaum als 'schön' oder 'unschön' zu charakterisieren. Er ist wahr. Und diese Wahrheit ist erbarmungslos traurig und unglaublich fröhlich zugleich, ist lustig und todernst, hat schöne und hässliche Aspekte. Diese werden aber (um beim Bild des schwarzweiß Portraits zu bleiben) nicht farbig in Szene gesetzt, sondern ganz unaufgeregt erzählt, mehr nüchtern berichtet.

Der Leser lernt in 'Lied der Weite' verschiedene Personen kennen, die 17jährige, schwangere Victoria, die von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt wird, die junge Lehrerin, die sich Victorias annimmt, ihr Kollege Guthrie, dessen Frau ihn und seine Söhne verlässt, und die Gebrüder McPheron, bei denen Guthrie und seine Söhne von Zeit zu Zeit aushelfen und die Victoria bei sich aufnehmen werden. Wie diese Personen, alle für sich, die täglichen Herausforderungen ihres Lebens auf dem Lande meistern, schildert der Roman wie in einem Choral ('Plainsong' - danke für die Neuübersetzung 'LIED der Weite', doch sehr viel passender als 'Flüchtiges Glück' (2001)). Jeder Akteur hat eine eigene Stimme, zusammen ergeben sie zum großen Finale ein stimmiges Ganzes.

Entgegen meiner (vom Klappentext geschürten) Erwartung erfahren wir eigentlich nichts über das Leben von Victorias Kind bei den McPherons. Der Roman endet ziemlich genau nach der Geburt. Er umfasst somit in etwa den Zeitraum der Schwangerschaft Victorias. Aber Victorias Rolle im Roman ist nicht so prägnant, wie man aufgrund der zeitlichen Orientierung an ihren Umständen denken mag. Alle anderen, oben erwähnten Personen werden gleichsam begleitet und alle haben, wie Victoria, Hindernisse und Probleme in ihrem Leben, die es zu überwinden bzw. durchzustehen gilt. Dadurch hat der Roman einen sehr ernsten Anspruch, die Probleme sind keine Kleinigkeiten und können sicher leicht auf 'heutige Zeiten' (die 80/90 sind ja nun auch gar nicht soooo lange her...) übertragen werden. Für den lustigen Unterton sorgen die (Single-)Brüder McPheron, die, trotz ihrer relativ kleinen Welt auf ihrer Farm, durch die Betreuung ihrer (Mütter-)Kühe einen Fundus an Lebensweisheiten (gerade auch über Frauen und Mutterschaft) angesammelt haben, den sie mühelos auf die menschliche Art übertragen. Sarkastisch sind sie auch und der Autor lässt manche ihrer besorgten Aktionen ironisch ins Leere laufen. Herrlich! Doch beherrscht sich Haruf sehr, diesen Witz (bzw. die Brüder) nicht übermäßig einzusetzen, so dass der Roman nicht zum Schenkelklopfer werden kann, die Brüder den melancholischen Unterton lediglich etwas aufheitern und einen herzlichen ländlichen Menschenschlag vorstellen.

'Lied der Weite' erzählt keine große Geschichte, sondern ist die Entstehung einer 'Wahlfamilie', deren Leben nach dem Roman eigentlich erst los geht. Durch seine präzise Vorstellung der Charaktere (ich schreibe bewusst nicht 'Beschreibung', denn eine solche ist es gerade nicht! Haruf macht 'show, don't tell' in Perfektion) ist der Leser aber nach der Lektüre ausreichend vertraut mit den Figuren, um sich genau vorstellen zu können, wie deren Leben in den nächsten Jahren weiterverlaufen wird. Eine ganz neue Erfahrung für mich, einen solchen Roman zu lesen, der schlicht eine Komposition aus verschiedenen Charakteren ist und diese zu einem Gesamtbild verwebt, das Grundlage für weitere Geschehnisse ist, und kein Roman ist, der eine 'Story' erzählt. Daher weiß ich auch nicht, ob ich weitere Romane von Haruf, die ebenfalls in der Kleinstadt Holt spielen, lesen soll. Aufgrund der Begeisterung für seinen Stil und den feinen Humor gefielen mir diese sicher auch, doch bin ich gerade von der Art und Weise der Komposition begeistert, die eigentlich nichts weniger braucht als eine Fortsetzung.