Rezension

Lesehighlight 2015

Die Gestirne - Eleanor Catton

Die Gestirne
von Eleanor Catton

Bewertet mit 5 Sternen

Gold schenkt keine Liebe, und Liebe ist unverkäuflich

"Wenn die Heimat nicht dort ist, wo man herkommt, dann ist sie dort, wohin man aufbricht."

Neuseeland, 1866: Nach langer, schwerer Überfahrt gelangt der junge Schotte Walther Moody in das Goldgräber-Dorf Hokitika und stolpert zufällig in eine ominöse Versammlung. Zunächst geben sich die zwölf Herren, die dieser beiwohnen, bedeckt, ziehen jedoch den Fremden schließlich ins Vertrauen: Rasch findet dieser sich in einem Netz von ungelösten Verbrechen, Intrigen und Geheimnissen eingesponnen. Warum versuchte eine opiumsüchtige Hure, sich umzubringen? Was geschah mit dem reichen Mann, der eines Tages spurlos verschwand? Weshalb fand man so viel Gold beim Leichnam eines Säufers?

"Ihm war, als wäre die ganze trostlose Szenerie vor seinen Augen ein gesammeltes Echo der Prüfungen, die er vor so kurzer Zeit durchgemacht hatte, und er scheute vor ihr zurück, um seinen Geist davor zu bewahren, dieser Verbindung nachzugehen und zur Vergangenheit zurückzukehren."

Mit 'Die Gestirne' entführt die Autorin Eleanor Catton, die bis dato jüngste Booker-Preisträgerin, den Leser in eine labyrinthartig angelegte Geschichte voller Irrgängen ganz im Stil des viktorianischen Romans, die nicht mit Komplexität und Raffinesse spart.

Die Kunstfertigkeit und Besonderheit des Buches lässt sich bereits in seinem Aufbau erahnen: die Kapitel unterliegen dem abnehmenden Mond und verkürzen sich jeweils um die Hälfte. Selbst die Personen sind allesamt Planeten und Sternzeichen zugeordnet, deren Konstellation und schicksalhaften Bahnen auf wissenschaftlicher Ebene basieren und somit die Handlung widerspiegeln. Um dem Verlauf der Geschichte folgen zu können, ist es jedoch nicht erforderlich, das System der astrologischen Struktur zu knacken. Gelingt dies dem Leser dennoch, offenbart sich ihm die Tragweite der genialen Präzision, mit der dieses Buch geschrieben wurde. Eine sehr ausgefallene und innovative Idee! Hierbei streut die Autorin immer wieder, wie beiläufig direkte Bezüge zum Titel in den Inhalt.

Über all dem steht der kunstvolle Schreibstil der Autorin, der eine lange Liste an rhetorischen Stilmitteln, wie Alliterationen, Assonanzen, Allegorien usw., zu bieten hat. Die Sprache, bei der jedes Wort wohlgewählt erscheint, ist altertümlich - ganz im Sinne des zeitlichen Kontextes – gehalten, aber weißt eine gute und flüssige Leserlichkeit auf. Wer sich von langen Schachtelsätzen nicht abgeschreckt fühlt, wird mit literarischen Genuss belohnt. Selten fand ich solch eine ausgefeilte und malerische Sprache in der zeitgenössischen Literatur. Beispiel gefällig?

"All das war wie verschleiert, die Gestalten waren verschwommen, als wären die Reise und alles, was mit ihr zusammenhing, bereits im trüben Nebel seines verwirrten Geistes vereinnahmt, als hätte sein Gedächtnis sich in sich selbst zurückgezogen und wäre dabei seinem Gegenpart begegnet, der Fähigkeit des Vergessens, und hätte Nebel und Regenschauer als eine Art gespenstische Bedeckung herbeibeschworen, die ihn vor den Erscheinungen seiner jüngsten Vergangenheit schützen sollte."

Zum Aufbau des Romans möchte ich noch anmerken, dass den Kapitalanfängen ein grober Umriss des folgenden Inhalts vorausgeht, was gewiss Geschmackssache ist. Mir sagt dieser Kunstgriff allgemein sehr zu, wenn er gut eingesetzt wird, was meiner Meinung nach hier definitiv der Fall ist.

Erwähnenswert finde ich außerdem, dass dem Leser weder ein Ich- noch ein auktorialer Erzähler, sondern eine Wir-Perspektive präsentiert wird, sodass Leser und Erzähler zu einem gemeinsam denkenden Kollektiv verschmelzen, was dem Roman eine zusätzliche interessante Note verleiht.

Als zentrale Thematiken sind die menschlichen Abgründe in allen Facetten und natürlich die Liebe zu nennen, wobei Letztere im Verhältnis der knapp 1000 Seiten lediglich einen kleinen, aber dafür prägnanten und keinesfalls kitschigen Platz einnimmt. Stellenweise ist ein feiner und kluger Humor herauszulesen. Da sich die Geschichte zusätzlich wie ein Krimi und dank dem zeitlichen Kontext wie ein historischer Roman lesen lässt (ja, auch ein Maori spielen eine Rolle), ist dieses Buch ein wahrer Genre-Hybrid der Extraklasse.

Die Spannung dieses Romans findet meiner Meinung nach hauptsächlich in den Interaktionen der Protagonisten statt. Ja, ich schreibe bewusst Protagonisten, da - sage und schreibe – 12(!) Personen tiefgründig und differenziert charakterisiert werden, wobei gleichzeitig keiner zu kurz kommt. Catton muss den Mensch und seine Abgründe, Beweggründe und Psyche studiert haben – anders kann ich mir ihre Beschreibungen, die von detaillierten Beobachtungen einhergehen müssen, nicht erklären. Was für eine Leistung in diesem Alter! Grundsätzlich zeugt dieser Roman von großer Reife und einem wachen, klugen Blick auf die Welt.

"Er wusste, dass er ihr nicht trauen durfte, und er wusste, dass uneingeschränkte Bewunderung alle Kammern seines Herzens überflutete, wenn er in ihrer Gegenwart weilte. Die Vernunft kann gegen das Begehren nicht viel ausrichten: Wenn das Begehren unstreitig und machtvoll empfunden wird, erlangt es den Status einer eigenen Vernunft."

Zu gerne hätte ich der Autorin bei der Entstehung des Plots und der Charaktere über die Schultern geblickt. Den vielen einzelnen Fäden, mit denen hier wahrlich nicht gegeizt wurde, zu folgen, erfordert beim Leser eine gewisse Sinndeutung und Konzentration ab. Demnach empfand ich das Buch als eine wohltuende Mischung aus Anspruch und Unterhaltung, zumal es zum Nachdenken und Überdenken der eigenen moralischen Grundhaltungen anregt.

"Wir verbringen unser ganzes Leben damit, über den Tod nachzudenken. Ohne diese Unterhaltungen würden wir uns vermutlich schrecklich langweilen. Wir hätten nichts, dem wir entgehen wollten, nichts, was wir verhindern wollten, und nichts, worüber wir uns Gedanken machten. Die Zeit hätte nichts zu bedeuten."

Um den Rahmen einer leserlichen Rezension nicht zu sprengen, beende ich diese mit einer klaren Empfehlung dieses Buches, welches ich jedem Interessierten wärmstens ans Herz legen möchte. Für mich war 'Die Gestirne' ein Jahreshighlight.

"[...]doch vielleicht (so dachte er) kommen denen, deren Gedanken bei den Toten weilen, die Lebenden immer erdenschwerer vor."