Rezension

Liebenswertes zeitgenössisches Märchen für Erwachsene

Ans Meer
von René Freund

Bewertet mit 5 Sternen

Ein zeitgenössisches Märchen für Erwachsene ist der wunderbare, im literarischen Umfeld bemerkenswerte, knapp 150 Seiten dünne Kurzroman „Ans Meer“ des österreichischen Schriftstellers René Freund (51), der seine Leser wie schon im vorigen Roman „Niemand weiß, wie spät es ist“ (2016) wieder auf eine „ungewöhnliche Reise mit überraschendem Ziel“ mitnimmt. Diesmal begleiten wir Linienbusfahrer Anton, von seinen Fahrgästen liebevoll Bärli genannt, auf seinem Roadtrip der besonderen Art. Es geht in den Süden, ans Meer.

Tagein, tagaus fährt Anton seinen alten Linienbus, bringt Dorfbewohner und Schulkinder in die Stadt und wieder zurück. Ziemlich eintönig ist dieses Leben. Dabei war Busfahrer einst sein Lebenstraum. Jetzt bleibt ihm nur, den einsteigenden Schulkindern wenigstens das anständige Grüßen beizubringen, wenn sie morgens „in einer Art Wachkomazustand ihren Schulen entgegen dämmern“. Denn wer anständig grüßen kann, tut sich im Leben erheblich leichter, weiß Anton. „Ohne Gruß würde man niemals einen Partner finden, ohne vorhergehendes Grüßen kann man auch keine Kinder zeugen, Jedenfalls würde es ziemlich unhöflich aussehen.“

„Ans Meer“ ist ein freundlich stimmender, ein sehr warmherziger Roman, der uns Mut machen will, unserem Leben die schönen Seiten abzugewinnen. Den Mut zu haben, vom eingetretenen Lebenspfad abzuweichen. Als eines Tages die vom Tod gezeichnete, krebskranke Carla den Wunsch äußert, nur noch ein einziges Mal ans Meer fahren und ihren Geburtsort San Marco aufsuchen zu dürfen, trifft Anton eine Entscheidung, die sein Leben verändern wird. „Wir fahren jetzt ans Meer“, verkündet er den verdutzten Fahrgästen.

Dieser charmante Roman ist eine liebenswerte Erzählung, die ähnlich den klassischen Märchen mit ihrem philosophischem Kern uns zum Nachdenken anregt. Wir erleben Anton, der, frisch in seine Nachbarin Doris verliebt, ihr mit seiner Tat einerseits imponieren will - mag sie doch Männer, die etwas wagen -, andererseits enttäuscht vor ihr wegläuft, hatte doch erst in vergangener Nacht ein anderer Mann auf ihrem Balkon gehustet. Befreien kann sich Anton auch endlich von seiner dominanten Mutter, deren andauernde Kontrollanrufe er auf dieser Fahrt schließlich wegdrückt.

René Freund macht als Autor seinem Namen alle Ehre: Er erweist sich in dieser märchenhaften Geschichte als wahrer Freund seiner Charaktere und bringt auch die Handlung zum glücklichen Ende: Doris folgt im Auto des Bruders – er war der Mann, der auf ihrem Balkon gehustet hatte - ihrem geliebten Anton in den Süden, bis beide, endlich glücklich vereint, den Weg gemeinsam fortsetzen. Wie jedes Märchen hat auch dieses eine Botschaft für uns: Wir sollten gelegentlich Mut zeigen und Entscheidungen wagen, selbst wenn sie ungewöhnlich erscheinen und Risiken bergen. Auch Anton muss sich letztlich wegen Entführung seiner Mitreisenden vor Gericht verantworten. Er sitzt seine dreimonatige Gefängnisstrafe leichten Herzens ab, kann er sich doch nach diesem Abenteuer der Liebe seiner Doris und der Freundschaft seiner Reisegefährten sicher sein, die jenseits des vergitterten Fensters auf ihn warten. Nur eine ist nicht mehr dabei: Carla. Sie starb während seiner kurzen Haft – nach ihrem Besuch am Meer. Anton hatte seine Entscheidung, von der eingefahrenen Lebenslinienfahrt abzuweichen, gerade noch zum rechten Zeitpunkt getroffen.