Rezension

Mann mit Tauben

Nach Onkalo - Kerstin Preiwuß

Nach Onkalo
von Kerstin Preiwuß

Bewertet mit 4 Sternen

Matuscheks Leben gerät an dem Morgen aus dem Tritt, an dem seine Mutter tot im Bett liegt. Bisher hat sie ihn morgens rechtzeitig vor der Arbeit geweckt, ihn bekocht und seine Wäsche gewaschen. Igor, „der Russe“ von nebenan, kümmert sich spontan um den verwaisten 40-Jährigen, organisiert die Beisetzung und kennt sich mit muckenden Waschmaschinen aus. Der Nachbar sieht Matuscheks Problem, wir müssen dir eine Frau suchen, meint er trocken. Leicht gesagt, in einer sterbenden Gegend, in der schon eine Skatrunde am Fehlen des dritten Spielers scheitern kann. Kein Wunder, dass hier u. a. die Beziehungen von Matuschek zu drei gegensätzlichen Männern im Mittelpunkt stehen; denn Frauen sind aus der sterbenden Region längst in die Großstädte abgewandert. Vielleicht ist Matuschek doch nicht der schlafmützige Loser wie befürchtet, sondern hat das aus seinem Leben gemacht, was zwischen Wolkenformationen und dem Auflassen seiner Tauben hier machbar ist.

Noch hat Matuschek Arbeit als Wetterbeobachter auf dem Flughafen, aber damit wird bald Schluss sein. Erst einmal lernt Matuschek zu schätzen, wie gut man mit Igor angeln und schweigen kann. Außer Igor hat Matuschek Witt zum Freund, einen ehemaligen Kraftwerksarbeiter, der sich tiefschürfende Gedanken über drohende Atomkatastrophen und die Schlampigkeit der Menschen an sich macht. Beide Männer züchten Brieftauben, um die sie sich täglich diszipliniert kümmern müssen. Sollte einer von ihnen seine Pflicht nicht mehr erfüllen, wäre das in ihrem Leben Zeichen einer viel größeren Katastrophe als eine Kraftwerkspanne. Im Leben ohne Igor bekommt Matuschek Kontakt mit einem windigen Berliner Geschäftsmann, der ihn sogar als Subunternehmer beschäftigen würde. Als Matuschek völlig vor die Hunde zu gehen droht, kommt es zur Wende in seinem Leben. Keine Ahnung, wie Matuschek auf Onkalo gekommen ist. Dass er darauf gekommen ist, lässt ahnen, wie er nach langer Zeit dafür über seinen Gartenzaun hinaus gucken musste …

Verplante Menschen wie Matuschek können einem beim Lesen gehörig auf den Wecker gehen, während die Zumutungen des Alltags ihnen zusetzen. Der Gedanke, Matuschek, komm in die Puschen, drängte sich auch mir auf. Doch Katrin Preiwuß gnadenlose Konsequenz, mit der sie ein Stück sterbenden Osten aus der Sicht des abgehängten Matuschek beschreibt, hat mich zunehmend gefesselt. Wer sich auf die Paarungen Igor, Matuschek, Witt und Lewandowski einlassen kann, findet hier einen feinfühlig erzählten Text, der mit "Onkalo" einen dezenten postapokalyptischen Schwenk in die Zukunft hinlegt.