Rezension

Mehr als eine Deutschstunde

Gehen, ging, gegangen
von Jenny Erpenbeck

Richard war Professor für Altphilologie. Nun ist er pensioniert und hat viel Zeit - doch was soll er damit anfangen? Wie vergeht die Zeit, wie kann man Untätigkeit aushalten, wie erträgt man den Verlust von Lebenssinn? Nur durch Zufall bemerkt Richard eine Gruppe von afrikanischen Flüchtlingen, die in Berlin gestrandet sind und hier warten: Auf ein neues Leben, auf Anerkennung, auf Arbeit. Als Wissenschaftler geht Richard seine Themen systematisch an: Er entwickelt einen Fragenkatalog und macht sich auf den Weg, um bei den Flüchtlingen neue Antworten zu finden. Zunächst ist er völlig verkopft, es fällt ihm schwer, die Gefühle der Männer zu verstehen. Anfangs erscheinen sie ihm alle gleich und kaum unterscheidbar, doch nach und nach erkennt er die Individuen mit ihren unterschiedlichen Lebensgeschichten, Charakteren und Bedürfnissen. Es entstehen Beziehungen, mit denen er nicht gerechnet hat...

Emotionslos vergleicht Richard die Grenzen, von denen die Flüchtlinge ihm erzählen, mit denen aus seinem Erleben: Der Berliner Mauer, der Trennung von BRD und DDR, der langsamen Annäherung nach der Wende. Die Flüchtlinge erzählen von Krieg und Verfolgung; hier zieht er Parallelen zum zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Doch seine Hinweise auf die deutsche Geschichte interessieren die Flüchtlinge nicht; sie haben genug an ihren eigenen Wunden zu tragen, sie leiden unter dem Verlust von Familie, Freunden und Heimat. 

Das Buch ist hoch aktuell; die Diskussion über die Flüchtlingswelle beschäftigt viele Deutsche. Erpenbecks Buch weckt gerade durch die unsentimentale Herangehensweise viel Verständnis. Die Flüchtlinge bleiben nicht anonym, sondern werden zu Individuen. Dabei bleibt sie realistisch: Nicht alle sind sympathisch; ob vielleicht einer von ihnen auch einen Einbruchsdiebstahl begangen hat, bleibt offen. Der Schluss allerdings überzeugt mich nicht. Dass Richard und alle seine Freunde ihr Verhalten so ändern, ist in meinen Augen realitätsfremd. Schade.