Rezension

Meisterhaft konstruiert!

Engelsgleich
von Martin Krist

Man könnte eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte über die Liebe einer Mutter zu ihrer Tochter, einer vermissten Tochter. Von einer Suche voller Verzweiflung und Beharrlichkeit, obwohl schon alles verloren scheint. Eine Geschichte vom Nicht-Aufgeben.

Man könnte auch eine andere Geschichte erzählen. Die Geschichte eines Mannes, eines Drogendealers, der es bis ganz nach oben schaffen will. Der Crystal Meth über die Grenze von Tschechien nach Deutschland schmuggelt und dabei zwischen die Fronten gerät. Eine Geschichte vom Guten und vom Bösen.

Man könnte aber auch die Geschichte eines Kommissars erzählen, eines Hauptkommissars im Berliner Morddezernat, der für seinen Job brennt, für den die Opfer nicht nur Akten und Nummern sind, der Gerechtigkeit will, der alles daran setzt, einen Täter zu überführen. Eine Geschichte vom starken Willen.

Man könnte so viele Geschichten erzählen, auch die eines jungen Mädchens aus Osteuropa, das mit dem Versprechen nach Deutschland gebracht wird, für ihre Familie in der Fremde gutes Geld zu verdienen. Nur wie, das verrät ihr keiner. Es ist die Geschichte einer Flucht vor Menschenhändlern, vor Missbrauch, Folter, Gewalt, und eine Geschichte vom Zusammenhalten.

Nicht alle dieser Geschichten können gut enden.

Und dann kommt da Martin Krist. Und packt all diese Geschichten, die jede für sich einen eigenen Roman füllen könnte, in einen einzigen Thriller, nennt ihn "Engelsgleich" und knallt der Welt 569 Seiten feinst-konstruierte Thrillerkost vor die Nase, dass dem Leser vor Vergnügen nur so die Ohren schlackern. Wobei das Buch inhaltlich kein leichtes Vergnügen ist, schwer wiegt die Auseinandersetzung mit Themen wie Menschenhandel, Zwangsprostitution, Pädophilenringe, Kindesmissbrauch, organisierter Kriminalität und Drogenschmuggel. Alles keine neuen Motive in einem Thriller, aber von Martin Krist mit einer Mischung aus Sensibilität und Härte umgesetzt, die auf jeglichen Voyeurismus verzichtet, die keine bizarren Details braucht, um schwer im Magen zu liegen. Ein Thriller wird für mich umso abstrakter, je aufschweifender psychische und physische Gewalt beschrieben werden. "Engelsgleich" verzichtet an vielen Stellen darauf, ins Detail zu gehen, Martin Krist scheint genau zu wissen, welche Szenen er ausformulieren muss, damit sie eine bestimmte Wirkung erzielen und bei welchen er alles sagt mit dem, was nicht gesagt wird.

Konstruiert ist „Engelsgleich“ meisterlich. Da sind diese vier Geschichten, diese vier Leben, vier Handlungsstränge, die sich spiralförmig umeinander winden, sich berühren, wieder auseinanderdriften, rasch wechseln, da entsteht Dynamik und Tempo, ohne Hektik, aber mit Druck und Spannung. Es gibt Ahnungen, Überraschungen, einen für mein Empfinden unglaublich gut inszenierten Aha-Moment, über den ich mich auch in ein paar Wochen noch freuen werde und es gibt ein Finale, das dem Buch, seiner Idee und seiner Handlung in vollem Umfang gerecht wird.

Fazit: Für mich der erste, aber ganz sicher nicht der letzte Thriller von Martin Krist, ein Autor, der bei mir mit nur einem Buch so einen starken Eindruck hinterlassen konnte, dass ich ihn zu den Autoren zählen möchte, denen man lauschen sollte. Er bringt eine Sensibilität für seine Themen mit, einen Respekt für die Realität, die viele Autoren vermissen lassen und erwischt einen damit volle Breitseite. Mich hat die Geschichte von "Engelsgleich" inhaltlich gepackt und technisch begeistert, ein Thriller, der so gut und komplex konstruiert ist, dass es von meiner Seite Beifallsstürme und stehende Ovationen gibt. 

Bewertung: 93 %
Stil: 4/5 | Idee: 4/5 | Umsetzung: 5/5 | Figuren: 4/5 | Plot-Entwicklung: 5/5
Tempo: 5/5 | Tiefe: 5/5 | Komplexität: 5/5 | Lesespaß: 5/5 | = 4,67 Punkte

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