Rezension

Mit dem Lanz auf große Fahrt

Willems letzte Reise - Jan Steinbach

Willems letzte Reise
von Jan Steinbach

Bewertet mit 4 Sternen

Das Geräusch eines angeworfenen Treckers erfüllt mich bis heute sofort mit dem Gefühl von Heimat und Kindheit. Wie oft knatterte es morgens unter meinem Fenster und mein Opa zog mit seinem kleinen grünen Traktor los. Es war dann das Highlight, wenn ich mit ihm mitfahren durfte und später, als ich groß genug war an die Pedalen heranzureichen, durfte ich den Traktor auf dem Feld in der Spur halten, während die Erwachsenen hinter dem Pflug, der Egge oder sonstwas hinterher gelaufen sind. Nur mit den Herstellernamen hab ich es nicht so. Ich merke mir einfach nicht, welche Marke unser kleiner grüner Trecker ist. Klar kann ich einen Deere von einem Lanz, Deutz oder Fendt unterscheiden, aber ich müsste dann schon mindestens vor ihnen stehen. Finn ist da ja schon mit seinen acht Jahren ein richtiger Treckerexperte. Er kennt alle Modelle und ihre Feinheiten, und das, obwohl er zu seinem Opa gar keinen richtigen Draht hat. Wie auch? Immerhin ist seine Mutter kein großer Fan von Willem, nach dem Tod ihrer Mutter steht viel Unausgesprochenes zwischen ihnen und Besuche gab es immer nur sporadisch. Doch Marion steckt nun mitten in einem Scheidungskrieg mit ihrem Exmann und kämpft um das Sorgerecht für ihren Sohn. Das Leben wird immer teurer und sie muss Arbeitsstunden aufstocken. Da gibt es nur noch Willem und seinen Hof als Betreuungslösung für Finn. Alle leiden unter der Situation, besonders Finn will sich nicht zwischen seinen Eltern entscheiden müssen. Willem versucht seinen Enkel aufzubauen und gemeinsam bringen sie den alten Lanz Bulldog wieder auf Vordermann. Opa und Enkel schmieden einen Plan, mit dem Lanz zurück an seinen Herstellungsort zu fahren, in ein, zwei Jahren. Doch dann läuft Willem plötzlich die Zeit weg und er muss sich früher als geplant auf die Reise begeben.

Jan Steinbach hat hier ein kleines erzählerisches Schätzchen vorgelegt. Er wechselt Kapitelweise zwischen zwei eng beieinanderliegenden Zeiträumen und trennt damit Willems letzte Reise, die über Tage geht, von der Vorgeschichte zur Idee der Reise, die sicher über ein knappes Jahr erstreckt. Die Figuren sind sehr liebevoll gezeichnet, mit Ecken und Kanten. Sie erzählen von der Sprachlosigkeit zwischen Menschen, die sich lieben und den Zugang zueinander verloren haben. Jeder von ihnen ist mit sich selbst beschäftigt und tut sich schwer, die Perspektive des anderen einzunehmen. Das ist ein Phänomen, welches sich auch im digitalen Zeitalter nicht verlieren, sondern eher noch schlimmer wird.

Die Hauptfigur ist Willem und sein Lanz. Willems letzte große Fahrt ist auch eine Fahrt zu sich selbst. Von der ersten Seite an schwingt der Verlust und die Trauer um seine Frau mit. Aber als Leser erfährt man die genauen Umstände des tödlichen Autounfalls vor 17 Jahren erst nach und nach. Die Spannungen innerhalb der Familie können nur schlecht eingeordnet werden. Man erlebt Willem als alten kauzigen Bauern, der allein auf seinem Hof herumwerkelt und furchtbar einsam und verbittert scheint. Erst der Enkel Finn kann diese Mauer um Willem allmählich aufbrechen. Und während Willem durch Deutschland mit seinem alten Lanz tuckert, entspinnt sich das ganze Ausmaß seiner traurigen Familiengeschichte, die sich womöglich nun in anderer Form bei seinen Kindern zu wiederholen droht.

Willems letzte Reise ist ein sehr berührendes Buch, obwohl und gerade weil es eine ganz normale Familiengeschichte erzählt, die sich so oder ähnlich wahrscheinlich tausendfach auf der Welt zutragen könnte. Aus der Perspektive des Lebensabend wirkt die Handlung und ihre Erzählweise besonders authentisch und glaubhaft. Eine klare Leseempfehlung.