Rezension

Mit fast 18 Jahren aus dem Nest geschubst

Die unerklärliche Logik meines Lebens
von Benjamin Alire Saenz

Bewertet mit 4 Sternen

Salvadore ist 17 und soll sich im letzten High-School-Jahr wie sein Altersjahrgang für einen Studienplatz an einer Universität bewerben. Der Sprung aus dem Nest kann für einen jungen Amerikaner bedeuten, nicht nur in die nächste Großstadt zu ziehen, sondern einige Tausend Kilometer entfernt von der Familie zu leben. Sals platonische Freundin Sam, Samantha, ist längst bereit für den Schritt in einen neuen Lebensabschnitt. Doch obwohl sie das Thema immer wieder anspricht, wirkt Sal noch nicht bereit dazu. Der junge weiße Mann ist als Kleinkind von einem allein lebenden Kunstprofessor adoptiert worden und damit in eine warmherzige Großfamilie mexikanischen Ursprungs aufgenommen worden. Sal schiebt seinen Bewerbungsaufsatz für die Uni ständig vor sich her, weil er sich noch nicht klar darüber ist, wer er eigentlich ist. Den Brief, den seine verstorbene Mutter ihm hinterlassen hat, hat er noch immer nicht geöffnet. Seine aggressiven Ausraster der letzten Zeit zeigen, dass Sal sich dringend damit auseinandersetzen muss, dass er einen – noch unbekannten – leiblichen und einen Adoptivvater hat. Sal fällt es schwer, sich für die Laufbahn eines guten oder bösen Jungen zu entscheiden, weil er nicht einordnen kann, welche Cahrakterzüge evtl. von seinem leiblichen Vater stammen könnten. Sorgen bereitet ihm die späte Einsicht, dass für seinen Vater Vicente der Kontakt zu seinem geliebten Adoptivsohn allein nicht genügt, sondern dass Vicente sich nach einem erwachsenen, männlichen Partner sehnt. Das Zusammenleben zu dritt mit einem Partner Vicentes wäre für Salvadore völliges Neuland. Die Familie ist aktuell mit der unheilbaren Krankheit der Großmutter Mima konfrontiert. Die von Mimas Maulbeerbaum fallenden Blätter symbolisieren den glücklichsten Moment in Sals Leben und durchziehen den Roman als Illustration zu Beginn jedes Kapitels.

Als Sams Mutter tödlich verunglückt, handelt Vicente so hilfsbereit wie erwartet und nimmt auch Sam in den Familienclan auf. Sams Mutter hatte ihn bereits vor ihrem Tod als Vormund für ihre Tochter bestimmt. Als dritter im Bunde muss Fito versorgt werden, der kurz vor seinem 18. Geburtstag zuhause rausfliegt. Unter ungünstigeren Bedingungen als Sal und Sam muss auch Vito den Schritt ins Erwachsenenleben wagen. Die drei Jugendlichen sind auf unterschiedliche Art mit nur einem Elternteil aufgewachsen und haben sich selbst noch nicht gefunden. Dass von ihnen nun eigenständiges Leben erwartet wird, bedeutet nicht, dass sie innerlich dazu bereit sind – und die Erwachsenen werden diesen Widerspruch spüren oder sich selbst daran erinnern können. Die Situation erinnert an junge Vögel, die bereits fliegen und sich selbst versorgen können und sich im Moment vor dem ersten Flug noch einmal an den Rand des Nestes krallen.

Benjamin Alire Sáenz lässt drei Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenenleben aufeinandertreffen. Den Moment des Zögerns, bevor knapp 18-Jährige den Schritt zum nächsten Lebensabschnitt tatsächlich wagen, hat Saénz wunderbar eingefangen. Eine Reihe zusätzlicher Probleme türmen sich auf. Die zentralen Themen waren für mich die Vatersuche der beinahe erwachsenen Figuren, die Homosexualität des Vaters, die Sal bisher verdrängt hatte, und der Übergang ins Erwachsenenleben, für den Sal zu Beginn des Romans noch nicht bereit ist. Im Vergleich zu „Aristoteles und Dante …“ konnte mich Sáenz zweites ins Deutsche übersetzte Buch jedoch weniger begeistern, weil mich das US-amerikanische Pathos beim Thema Heimat und Familie nicht anspricht und weil ich den Studienbeginn fast 18-Jähriger von der Lebensrealität einer Zielgruppe ab 13 Jahren sehr weit entfernt finde. Jugendliche, die damit kein Problem haben, werden sich in den unentschlossenen Icherzähler jedoch leicht einfühlen können.