Rezension

Mitreißend und berührend

Sieh mich an - Mareike Krügel

Sieh mich an
von Mareike Krügel

Bewertet mit 5 Sternen

„Sieh mich an“ ist ein Buch, das von Anfang an einen unwiderstehlichen Sog auf mich ausgeübt hat! Obwohl es durchaus nicht immer vergnüglich gewesen ist, die Ich-Erzählerin Katharina durch diese turbulenten Stunden zu begleiten. Bei ihrer Tochter Helli wurde gerade ADHS diagnostiziert, aber noch keine Behandlung begonnen, so dass sie nach wie vor unter Dauerstress steht. Mit ihrem Mann führt sie seit geraumer Zeit nur noch eine Wochenendehe und dann ist da noch dieses „Etwas“ in ihrer Brust, welches sie beharrlich an den Rand ihres Bewusstseins zu schieben versucht. Zwei Wochen zuvor hat sie es entdeckt, „es wird nicht kleiner, ist nicht beweglich und schmerzt nicht“… Nur noch dieses Wochenende, so hat sie für sich beschlossen, dann geht sie zum Arzt um sich Gewissheit über das „Etwas“ zu verschaffen.

Und dieses Wochenende, genau genommen nur etwa ein Tag, hat es dann wirklich in sich. Es beginnt damit, dass Katharina ihre Tochter in der Schule abholen muss, weil sie sturzbachartig aus der Nase blutet. Helli kann diese Fähigkeit anscheinend nach Belieben einsetzen um die Leute in Angst und Schrecken zu versetzen, vor allem dann, wenn sie gerade keinen Bock auf Schule hat.

Dass es keine leichte Aufgabe ist, ein Kind mit ADHS zu lieben und großzuziehen, war mir schon klar. Trotzdem hat es mich erschüttert zu lesen, was das im Einzelfall bedeuten kann. Ob es sich bei Helli um einen besonders schweren Fall handelt? Und warum hat es über zehn Jahre gedauert, das festzustellen?

Was Katharina in der Folge noch alles „zustößt“ ist teilweise bizarr und grenzt manchmal  an Slapstick, doch im Zusammenspiel mit dem tiefen Ernst ihrer Gedanken und Erinnerungen habe ich das tatsächlich nicht als übertrieben wahrgenommen, eher als wohltuenden Ausgleich. Katharina erzählt sehr offen und gewährt dabei tiefe Einblicke in ihre Lebenssituation und seelische Verfassung. Sie tut das mit einer Art verzweifeltem Pragmatismus, leiser Selbstironie und gelegentlich trockenem Humor, was der Geschichte einen Hauch von Leichtigkeit verleiht. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deshalb, berührt mich ihre Lage zutiefst. Nahezu jede Seite atmet den Stress und den Druck, unter dem sie steht. Während des Lesens habe ich mich manchmal selbst ganz „hibbelig“ gefühlt, so sehr hat sich diese unterschwellige Grundunruhe übertragen. Irgendwie geht auch alles ein wenig durcheinander, was aber wiederum zum Leben der Protagonistin passt. Ständig versucht sie mit dem Erstellen von teils originellen, teils absurden Listen, Ordnung in ihr „Helli-bedingtes Chaos“ zu bringen – allerdings wenig erfolgreich.

Das Ende war mir dann ein bisschen sehr über- und abgedreht. Nichtsdestotrotz hat es aber auch irgendwie gepasst. Die durch Stress und Schlaflosigkeit bis zum Äußersten aufgeladene Anspannung musste sich ja irgendwie entladen *g*.

Musik ist ein elementarer Teil von Katharinas Persönlichkeit, das ist immer wieder zu spüren. Ihre beruflichen Pläne und Wünsche diesbezüglich beschränken sich derzeit darauf, dass sie, als studierte Musikwissenschaftlerin, den Kindern ambitionierter Eltern ein paar Stunden die Woche musikalische Früherziehung angedeihen lässt. Ab und zu gönnt sie sich kleine Fluchten in ihre Musik und träumt sich dabei weg, was auch schon mal Folgen haben kann – wie z.B. den abgebrochenen Außenspiegel eines Autos ;). In diesen Passagen fühlt man ganz besonders eine leise Wehmut, ihre Sehnsucht nach Ruhe und das Bedürfnis, endlich einmal wieder zu sich zu kommen.

Diese so wichtigen Stunden mit Katharina zu durchleben, war für mich wechselweise berührend und schmerzvoll, heiter und unterhaltsam, immer eloquent und niemals langweilig. Nicht zuletzt wegen der leicht schrägen Nebenfiguren wie z. B. dem liebenswert-skurrile Transgender-Pärchen aus der Nachbarschaft, oder Hellis Freundin Cindi, die ihre Hochbegabung sorgsam zu verbergen sucht.

 Mareike Krügel ist für mich eine echte Entdeckung gewesen, eine großartige, überaus einfühlsame Erzählerin, von der ich unbedingt ein weiteres Buch lesen möchte.