Rezension

Nach Hause möchte ich.

Flugschnee - Birgit Müller-Wieland

Flugschnee
von Birgit Müller-Wieland

Bewertet mit 3.5 Sternen

Der Titel des Buches könnte nicht perfekter zum Inhalt passen.

Flugschnee ist nämlich ein ganz besonders feiner Schnee. Doch was so zauberhaft und harmlos klingt, kann den Schutz eines vermeintlich sicheren Daches heimtückisch unterwandern: die winzigen Eiskristalle werden bei starkem Wind noch durch die kleinste Ritze geweht, was mitunter zu gravierenden Schmelzwasserschäden führt.

Der Schnee ist ein Leitmotiv dieses Buches, das sich über mehrere Generationen einer Familiengeschichte erstreckt, erzählt aus verschiedenen Perspektiven, die sich nach und nach zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Denn auf den ersten Blick erscheint diese Familie wie ein sicheres Gebäude, das die Unbilden schwieriger, sogar grausamer Zeiten in gemeinschaftlichem Zusammenhalt übersteht – doch wird mit jeder Seite klarer: Geheimnisse, Ungesagtes, halb Vergessenes, das sind die Ritzen, durch die das Unglück hereingeweht wird.

Meist wird dieses Leitmotiv von der Autorin wunderbar eingesetzt, manchmal empfand ich die Methaphorik jedoch als etwas zu forciert: so wird mehrmals betont, dass die Großeltern versuchen, die durch den Flugschnee an ihrem Haus entstandenen Schäden einfach zu ignorieren, als müsste man einem begriffsstutzigen Leser noch einmal deutlich vor Augen führen, wie es um diese Familie steht.

Denn deren Konstrukt gerät in der jüngsten Generation nun endgültig ins Wanken, seit der Sohn, Simon, spurlos verschwunden ist. Einen Großteil der Geschichte sieht der Leser durch die Augen seiner Schwester Lucy, die seit vielen Jahren den immer gleichen Schneetraum träumt: einen wiederkehrenden Albtraum, den sie sich selbst nicht erklären kann, dessen Ursprung aber möglicherweise das in Gang gesetzt hat, was letztendlich zu Simons Verschwinden führte.

"Weihnachten wird kommen. 
Das Wort ist wie ein schriller Ton. Es schmerzt in den Ohren.
Mein Herz schlägt so, dass ich die Hand drauflege.
Ich summe und singe idiotischerweise:
Happybirthdaytoyou.
Als Kind hat das geholfen, manchmal.
Ansingen und Summen gegen etwas, das irgendwie falsch ist. 
Happybirthdayhappybirthdayhappybirthdaytoooyouuuuu."
(Zitat)

Birgit Müller-Wieland erzählt eine Geschichte, in der das Unglück nicht als großes Drama auftritt, sondern leise und schleichend. Dennoch kann man sich dem als Leser immer weniger entziehen, denn die Art und Weise, wie sie es erzählt, ist wunderbar konstruiert und erzeugt dadurch seine ganz eigene Spannung. Vieles von dem, was diese Familie erlebt, findet sich so oder so ähnlich auch in der Geschichte unzähliger anderer Familien, und dennoch ist das Mosaik, das entsteht, durch und durch originell.

Ich musste mehr als einmal an ein Zitat aus Tolstoys 'Anna Karenina' denken: "Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich."

Die Charaktere sind in meinen Augen bestechend lebensecht, obwohl man immer nur Fragmente aus ihrem Leben zu sehen bekommt. Die Autorin hat ein Gespür dafür, eine enorme Komplexität mit dem zu erreichen, was sie zwischen den Zeilen mitteilt. Und so stellt man irgendwann fest, dass das Buch eine Vielzahl von Themen vermittelt hat: nicht nur Generationenkonflikte und Familiengeheimnisse, sondern zum Beispiel auch Gedanken über Demenz, Abtreibung und die epigenetische Trauma-Vererbung.

"Nach Hause möchte ich." 
(Zitat)

Der Schlüssel zu allem, was geschieht, liegt in Lucys Traum(a), beziehungsweise dessen Ursache. Und hier hat das Buch mich sehr enttäuscht, denn die Auflösung erschien mir fast schon banal, die Ereignisse zusammenhaltslos – womöglich wurden aber für mein Empfinden am Schluss einfach zu viele Dinge noch schnell abgehandelt. Überhaupt sind die so sorgsam gehüteten Geheimnisse der verschiedenen Familienmitglieder zum Teil deutlich weniger bedeutungsschwer als erwartet.

"Überall war es weiß, als ich aufblickte, makellos weiß, eine Art grundloses Existieren – es zog einen Schmerz nach sich. Der Schmerz war wie etwas, das ich einmal gekannt aber irgendwann vergessen hatte.
Weißweißweiß.
War es Licht?
War es Farbe? 
Der Satz blieb."
(Zitat)

Der Schreibstil hat viele magische Momente, in denen er, ruhig und schwerelos, eine ungeheure sprachliche Schönheit entwickelt.  Allerdings ist es hier ähnlich wie mit dem Leitmotiv: manchmal wirkten Formulierungen auf mich etwas überstrapaziert, und dann verlor sich für mich jeglicher Zauber. 

Fazit: 
Birgit Müller-Wieland erzählt die Geschichte einer Familie, die auf leise Art und Weise unglücklich ist und das selber nicht gänzlich realisiert. Das Buch springt zwischen Zeiten und Perspektiven, und dabei kristallisiert sich langsam heraus, dass hier nicht nur Familienporträts und Haarfarben vererbt wurden, sondern auch Traumata und Geheimnisse.

Oft fand ich das großartig, über weite Strecken spannend und gekonnt erzählt – manchmal aber auch zu gewollt und im Endeffekt enttäuschend aufgelöst. Alles in allem ein Buch, das ich interessant fand, das mich aber nicht bis zu Schluss überzeugen konnte.