Rezension

"Nationalismus ist ein dünnes Gewand"

Im Land der Männer - Hisham Matar

Im Land der Männer
von Hisham Matar

Bewertet mit 4.5 Sternen

"Nationalismus ist ein dünnes Gewand, weshalb vielleicht auch so viele glauben, man müsse ihn besonders schützen.“ S. 239

Libyen? Gaddafi, Lockerbie, die Diskothek La Belle, bulgarische Krankenschwestern. Gaddafis Ende, der Bürgerkrieg. Dann eine Empfehlung für dieses Buch.

1997 Sommer in der Hauptstadt Tripolis, Ich-Erzähler Suleiman ist neun und berichtet rückblickend. Oft ist er allein mit seiner Mama, die ihn 15jährig bekam, Vater „Baba“ ist dann auf Auslandsreise. Die Mutter fährt in dem islamisch geprägten Land Auto, es gibt Fernseher, moderne Musik, die Familie lebt in einer mit westlichem Luxus ausgestatteten Wohnung, der Vater ist Geschäftsmann. Dann sieht Suleiman beim Einkauf am Märtyrerplatz seinen Vater, der doch im Ausland sein soll. Der Nachbar wird abgeholt vom Revolutionskomitee. Suleiman reagiert verängstigt.

Der Blick eines Erwachsenen wertet fast zwingend, somit ist die Sicht des Kindes als Ich-Erzähler eine geniale Idee. Der Autor, Sohn libyschstämmiger Eltern, der seine Kindheit in Libyen verbracht hat, muss bestimmte Zusammenhänge nicht nennen, sie erschließen sich subtil aus der kindlichen Wahrnehmung: So erkrankt, wenn der Vater auf Geschäftsreise ist, die Mutter und benötigt Medizin. „Die Medizin veränderte ihre Augen und ließ sie das Gleichgewicht verlieren.“ S. 19 Die Medizin wird unter der Theke in der Bäckerei verkauft, wenn es dort längst kein frisches Brot mehr gibt.

Neben dem Libyen Gaddafis beschreibt der Autor über die Situation der Frauen. So erzählt die Mutter von dem weißen Taschentuch auf dem Bett, auf dem die damals 14jährige die Ehe vollziehen musste mit dem von der Familie ausgesuchten Mann, den sie vorher noch nie gesehen hatte. „Es war die Pflicht eines jeden Mannes zu beweisen, dass seine Frau noch Jungfrau war.“ S. 18. Die Großmutter hält später glücklich das Taschentuch mit dem Blut darauf.

„Im Land der Männer“ bietet nicht nur Gesellschaftskritik, sondern auch eine Geschichte über das Erwachsenwerden, über Trauer, Verlust, Liebe, Angst, Verrat und mehr, transportiert in schönen, poetischen Worten. „Mamas Gesicht veränderte sich. Kurz bevor man weint, versucht sich das Gesicht wegzufalten, sich vor der Welt zu verstecken.“ S. 142 Die Hitze, typisch für die subtropische Küstenregion Libyens, spürt man geradezu selbst. Ja, ich habe wieder einmal vorab kurz durch den Wikipedia-Text zu Libyen gescrollt, was für die allgemeine Einordnung wirklich nicht schadet, besonders der Abschnitt zur Geschichte https://de.wikipedia.org/wiki/Libyen

Ich habe das Buch gerne gelesen, die Sprache genossen und das Eintauchen in die Kultur samt genanntem Kunstgriff. Die Schwäche von letzterem: er erklärt nicht. Der über Libyen hinaus durchaus verbreitete Brauch mit dem Taschentuch, dass über Ehen die Familien entscheiden. Hingegen war, ungeachtet sonstiger Auswüchse, Gaddafis Libyen ein Land mit durchaus untypischer Koedukation, einem Wehrdienst für Frauen, einem hohen Sozialstandard für alle – solange man nicht vom Geheimdienst Mokhabarat „hinter die Sonne geschickt“ wurde oder Konventionen die Freiheit beschränkten. Auch die Beschneidung, die weiße Kleidung, das Küssen der Hand, die Ansprache der Mutter als „Umm Name-des-ältesten- Sohns“, des Vaters als „Bu Name-des-ältesten-Sohns“ könnten verwirren. Jetzt sind Literatur und Wörterbücher verschiedene Genres, aber einige extra Anmerkungen kämen nicht falsch, zu fern dürfte die Kultur den meisten sein.