Rezension

Neapolitanischer Kreislauf des Lebens

Die Geschichte des verlorenen Kindes - Elena Ferrante

Die Geschichte des verlorenen Kindes
von Elena Ferrante

Bewertet mit 3 Sternen

Romanreihen dieser Art lesen sich schlecht von hinten nach vorn – daher lässt es sich leider nicht vermeiden, dass die Gedanken in dieser Rezension zu Band 4 der Neapel-Reihe von Elena Ferrante auch die vorherigen Bücher mit einschließen werden. Wer also die ersten drei Bücher noch nicht gelesen hat, sollte jetzt lieber nicht weiterlesen.

Richtig gute Romane verschlinge ich mit viel Freude und zwinge mich deshalb oft für die letzten 100 Seiten auf die Bremse zu treten, um noch so lange wie möglich mit den Protagonisten in deren Geschichte zu verweilen und den Abschied hinaus zu zögern. Es ist ein süßer Schmerz in dieser Spannung zwischen dem Wunsch, das Ende zu kennen und der Gewissheit, das Buch dann beendet zu haben.

Über viele Wochen haben mich nun Elena und Lila begleitet. Ich erlebte, unter welch schwierigen Umständen sie aufwachsen mussten, wie das Leben und die Liebe spielen kann und dass nach der Hochzeit nicht alles unweigerlich besser wird. Der Kampf zweier Frauen um ihr Glück und um ihre Eigenständigkeit gegen den Rest der Welt und viel zu oft auch gegeneinander. Am Ende bin ich froh, den beiden Lebewohl sagen zu dürfen und bleibe zwiegespalten zurück. Das ist vielleicht ungerecht den ersten drei Teilen gegenüber, aber Band vier empfand ich wirklich als äußerst anstrengend. Mir ging Elena zunehmend auf die Nerven. Selbst als erwachsene Frau und bekannte Schriftstellerin kreiste sie permanent um sich und ihre Konkurrenz mit Lila. Dass, was mich in den Vorgängerbüchern noch als sehr interessant und aufschlussreich ins Grübeln um meine eigenen Freundschaften und Beziehungen brachte, verlor im letzten Teil irgendwie seine Glaubwürdigkeit für mich. Vielleicht liegt es daran, dass ich diese letzten Lebensalter von Elena und Lila noch vor mir habe und eigentlich hoffe, dass das Vergleichen und Konkurrieren ja irgendwann einmal der Zufriedenheit weichen muss. Dann spricht hier also nur meine eigene Überheblichkeit, diese Form der Arroganz, die mich bei Elena die Wände hoch gehen lässt.

Nino entpuppt sich als absoluter Schwerenöter, ganz in die Fußstapfen seines Vaters tretend. Was wir Leser schon länger ahnten und Lila durch Antonio ausspionieren ließ, dieser Wahrheit muss auch Elena endlich ins Gesicht blicken. Selbst wenn sie mit ihrem Ehemann Pietro nicht unglücklich gewesen wäre, so hätte Nino sicherlich dennoch leichtes Spiel bei ihr gehabt. Die Genugtuung, ihn nun doch „bekommen“ zu haben, obwohl ihn ihr Lila damals weggenommen hatte, macht sie blind für die Realität. Sie wiederholt mit ihm Lilas Geschichte und merkt es nicht. Die Verhältnisse im Rione scheinen sich nach Elenas Rückkehr ganz allmählich wieder denen ihrer Kindheit anzunähern. Dieses Auf und Ab im Leben, die Wiederholungen innerhalb der Familien, das Streiten, die Gewalt, die ungleichen Machtverhältnisse, all das gibt dem Roman eine deprimierende Schwere. Als würden uns die Buchseiten hinab ziehen in dieses heruntergekommene Viertel und uns nie wieder auftauchen lassen wollen. Es ist wie bei Elena, egal wohin es sie auch zieht, den Rione trägt sie in sich. Sie ist sich bis ins hohe Alter nicht sicher, ob sie es wirklich verdient hat, Erfolg im Leben zu haben. Sie schafft es nicht, aus sich selbst heraus Zufriedenheit zu finden, sondern lässt sich hineinziehen in den Trubel der Bewunderung von außen, um dann umso härter immer wieder auf dem Boden der Tatsachen aufzuschlagen.

Eine Meinung zu Lila aufzubauen, fällt mir ungleich schwerer. Alles ist von Elenas Erzählung eingefärbt. Über Lila erfahren wir immer nur von anderen, vornehmlich aus der Perspektive von Elena. Das schürt bei mir Distanz. Ich lasse sie als Figur nicht an mich heran, betrachte sie wie ein Tier im Zoo – mit Staunen und Mitleid. So wie Elena sie beschreibt, ist sie mir furchtbar anstrengend und ihr Wankelmut ist nervend. Sie wirkt an vielen Stellen so verloren und reagiert wie ein bissiger Hund oder hat zuviel Oberwasser, dass sie sich für unangreifbar und unverletzlich hält. Nie ist man sich sicher, ob sie Elena nun wirklich gern hat oder nicht. Das bringt natürlich eine permanente Spannung in die Erzählung, irgendwann scheint das Konzept aber auch ausgereizt. Diese Freundschaft bleibt ein großes Rätsel, aber sie bringt auch viele Denkanstöße mit sich.

Und besonders interessant ist das Italien und seine Entwicklung um die beiden Hauptfiguren herum. Die politischen Umwälzungen, der Kampf der Frauen für Gleichberechtigung, der wachsende Anspruch auf Bildung, die mafiösen Strukturen vom Kleinen bis ins Große über diese vielen Jahrzehnte hinweg – das hat mich wirklich begeistert. Es lenkt den Blick hinaus über die Klischees, die ich von Italien im Kopf habe und zeigt mir auf, wie wenig ich weiß. Manchmal hätte ich mir hier allerdings auch etwas mehr Genauigkeit von Elena gewünscht. Historische Fakten finden sich natürlich eher nicht in ihren Ausführungen.

Die riesige mediale Begeisterung für die Neapelreihe kann ich dennoch nicht ganz nachvollziehen. Der Stil der Ich-Erzählerin ist teilweise unnötig langatmig und wird durch ihre unablässige Nabelschau aufgebauscht. Sprünge und Vorwegnahmen bringen Dissonanzen in den chronologischen Erzählfluss, die wiederum redundant wirken. Man hätte die gleiche Geschichte sicherlich auch nur mit der Hälfte der Seitenanzahl eleganter erzählen können – aber dann wären auch keine vier Bücher in den Verkauf gekommen, sondern nur zwei.