Rezension

Nervenaufreibend

Die Perfekten - Caroline Brinkmann

Die Perfekten
von Caroline Brinkmann

Inhalt
 

Das System in Hope garantiert, dass jeder seinen Platz in der Gesellschaft kennt. Schon bei der Geburt werden die Menschen für alle sichtbar entsprechend der Qualität ihres Erbmaterials in die Klassen der Einsen, Zweien und Dreien eingruppiert, angeführt von den Gesegneten, der Elite von Hope. Rain jedoch gehört in keine dieser Kategorien, denn offiziell existiert sie nicht. Sie ist ein Ghost, eine Nicht-Registrierte, und als solche wird sie von den Sentinals gesucht. Bei ihrem Zusammentreffen mit Lark wäre ihr Geheimnis beinahe aufgeflogen. Seit diesem Moment läuft alles für sie und ihre Mutter aus dem Ruder. Doch die beiden sind nicht die einzigen, die um ihr Leben fürchten müssen. Unzufriedenheit und Wut machen sich unter den Bewohnern Hopes breit, angefeuert von den radikalen Aktionen der Rebellen. Inmitten dieses Chaos ist keiner mehr sicher. Um seine Familie zu schützen, würde Lark alles tun - selbst wenn das heißt, andere in Gefahr zu bringen und sich auf eine Seite zu schlagen, mit deren Methoden er nicht einverstanden ist.
Ganz Hope muss nun eine Entscheidung fällen: Gesegnete oder Rebellen? Ordnung oder Chaos? Oder gibt es noch einen anderen Ausweg?

Meinung

Gleich zu Beginn möchte ich sämtliche Bedenken ausräumen: Trotz des ähnlichen Titels, der Grundidee einer nach Perfektionismus strebenden Gesellschaft und dem Genre haben "Die Perfekten" und die "Flawed/Perfect"-Reihe von Cecelia Ahern nicht viel gemeinsam. Vergleiche könnte man zwar durchaus zu anderen Dystopien ziehen (etwa Tribute von Panem), aber diese Geschichte weißt so viele neuartige, eigenständige Elemente auf, die sie deutlich von anderen Genrevertretern abhebt. Umso mehr Spaß hat es gemacht, sich mit diesem (futuristischen und technikgetriebenen) Weltentwurf vertraut zu machen und hinter die Funktionsweise des Systems zu steigen. Wie funktioniert die Hierarchie? Wer regiert das Land? Wie ist es aufgebaut? Welche Rolle ist den jeweiligen Bevölkerungsgruppen zugedacht? Welche Sektoren sind wichtig? All diese Aspekte werden nach und nach erläutert. Das Tolle hierbei ist, dass man fast alle Gesellschaftsschichten/-gruppen von innen heraus kennenlernt und damit die einzelnen Perspektiven viel besser versteht.

Anfangs standen nur wenige Charaktere im Zentrum des Geschehens, aber je mehr sich die Story entfaltete, desto mehr interagierten sie miteinander bzw. mit anderen, sodass sich das Ensemble stetig vergrößert hat. Man hat also eine relativ große Auswahl an potenziellen Sympathie- und Antipathieträgern, wobei mir die Kategorisierung wahrlich nicht leicht gefallen ist. Ich wurde permanent herausgefordert, musste meine Position und Charaktereinschätzungen überdenken. Mit einem Schwarz/Weiß-Denken kommt man hier eindeutig nicht weit, denn fast jede Figur hat wenigstens eine Eigenschaft, die sozusagen "ausbricht". In den meisten Fällen ist Vorsicht geboten, denn Schein und Sein gehen in dieser Geschichte oft getrennte Wege. Man sollte außerdem vorsichtig sein, an wen man sein Herz hängt - ich zumindest musste mehr als einmal heftig schlucken, war enttäuscht oder deprimiert angesichts der Entwicklung einiger Figuren. Für mich als Leserin war das pure Folter und ich fühlte mich häufiger vor den Kopf geschlagen. An einem Punkt wäre ich fast auf die Barrikaden gegangen, aber Caroline Brinkmann wusste das auf den letzten Drücker noch zu verhindern (sozusagen). Ich muss aber auch betonen, dass es durchaus positive Wandlungen zu beobachten gab, sodass meine Hoffnungen nicht vollkommen zerschlagen wurden. Auf jeden Fall bin ich für Teil 2 nun definitiv vorgewarnt und auf einige liebsame und unliebsame Überraschungen gefasst.

Ab dem zweiten Drittel kam ich jedenfalls fast nicht mehr zum Luftholen, weil der Spannungsbogen so rapide anstieg. Meine Nerven und Gefühle wurden ganz schön strapaziert, denn in kürzester Zeit folgte ein schockierendes Ereignis auf das nächste. An Action mangelt es definitiv nicht. Auch Langatmigkeit kann man dem Roman nicht vorwerfen, denn selbst die ruhigeren Passagen waren für die Handlung von Relevanz und haben sie vorangebracht. Klasse waren in der Beziehung vor allem die gesellschaftspolitischen Überlegungen bspw. zur Notwendigkeit von Hierarchien und Klassenbildung, zum Verhältnis von Kontrolle und Freiheit, zur moralischen Vertretbarkeit von radikalen Handlungen usw. Es gab kaum einen Bereich, der nicht angesprochen wurde. Nicht nur zeigt das, wie viele Gedanken sich die Autorin zu ihrer dystopischen Welt gemacht hat, sondern man wird als Leser selbst zum Nachdenken angeregt. Da der Schwerpunkt deutlich auf den soziopolitischen Entwicklungen liegt, bleibt nicht viel Platz für amouröse Verwicklungen, aber um ehrlich zu sein, habe ich diese auch nicht vermisst. Für Teil 2 wären sie ein netter Zusatz (einige Andeutungen wurden durchaus gemacht), aber sie sind auch kein Muss.

Fazit

Bei kaum einem Roman, den ich in letzter Zeit gelesen habe, trifft die Formulierung "Achterbahn der Gefühle" so gut zu wie auf "Die Perfekten". Von Euphorie über Depristimmung bis hin zu Entsetzen war im Grunde alles dabei - so fesselt man den Leser!
Die volle Punktzahl gibt es eigentlich nur deswegen nicht, weil ich a) auf ein, zwei Schocker durchaus hätte verzichten können, und ich b) glaube, dass Caroline Brinkmann ihr Pulver noch nicht verschossen hat und ich mir für den zweiten Band noch eine Steigerung offen halten will.

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