Rezension

Diese Rezension enthält Spoiler. Klicken, um alle Spoiler auf dieser Seite lesbar zu schalten.

Nussschale

Nussschale - Ian McEwan

Nussschale
von Ian McEwan

Bewertet mit 5 Sternen

"Nussschale" von Ian McEwan erschien (gebunden) im Diogenes Verlag (2016). Das Cover wird von Frauenbeinen geziert, die sich lasziv in die Kissen recken; allerdings ist der Romaninhalt ein anderer...
Es handelt sich um anspruchsvolle, intelligent geschriebene Literatur mit ausgewählten, prägnanten Formulierungen, die kritisch auf den Punkt gebracht wurden. Übersetzt wurde "Nutshell" im Original aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Als Ich-Erzähler macht sich ein UNGEBORENER (Junge) von Beginn seiner Entstehung im Mutterleib an Gedanken über das, was ihn wohl 'draußen' erwartet: Die Mutter (Trudy) hört gerne Radio, besonders gerne mag sie podcasts, Biografien und Moderation, die ER immer mithört, worin bereits der erste trockene britische Humor im wahrsten Sinne des Wortes 'keimt'.Beide, also ER , der Ungeborene und seine Mutter Trudy bewohnen ein altes Haus in einem vornehmeren Stadtteil Londons, das dem leiblichen Vater (John) gehört: Da Trudy "Raum braucht", trennte sie sich von John, hat jedoch einen Liebhaber, der hier eine stupide, einfalls- und farblose Rolle spielt (Claude); zudem kommt er IHM, dem Ungeborenen, in seiner Schutzhülle zuweilen gefährlich nahe...
Ian McEwan benutzt eine unglaubliche Perspektive des Erzählens 'aus dem Bauch heraus', die er trotz einiger sozialkritischer Themen und realen Bezügen zu diesem Planeten gekonnt in stakkatohaftem Stil mit herrlich britisch-trockenem Humor zum Ausdruck bringt.ER, der Ungeborene überlegt also, ob er schon einmal die Nabelschnur mit Betperlen vergleichen sollte in der Hoffnung, dass trotz dem Zustand der Welt (und dem, was womöglich auf ihn wartet) alles noch irgendwie gut ausgehen könnte...
Da der leibliche Vater im Wege ist, beschließen Trudy und Claude, sich dessen zu entledigen und schmieden ein Mordkomplott, was im Ungeborenen noch mehr Fragen aufwirft: Die Gespräche, die er mitanhört, haben eindeutig kriminellen Charakter (und ihm entgeht nichts). Wie sich herausstellt, ist John doch nicht so naiv, wie er sich seinen leiblichen Vater vorstellte und der aus dem Haus geworfene singt gar ein Loblied auf die zu Ende gegangene Liebe zwischen ihm und Trudy, woraufhin Claude und Trudy zurecht verdattert reagieren.  Nun ist Eile geboten: Ob das Vorhaben, ihn aus dem Weg zu räumen, gelingen wird?
Der Ungeborene ist solcherart entsetzt über das skrupellose Vorhaben der beiden, dass er überlegt, mittels der Nabelschnur seinem noch nicht begonnenen Leben selbst ein Ende zu setzen; entscheidet sich letztendlich jedoch für sein Anrecht auf Leben, will er doch 2099 mit einem Tanz ins neue Jahrhundert swingen: Die philosophischen, aber auch realen Betrachtungen, wie sich die Welt und die Menschheit bis zum 22. Jhd. weiterentwickeln wird, sind sehr aktuell und geben zu denken...
Wie sich später herausstellt, ist es wie im Leben: Nicht alles ist, wie es scheint und einige Äußerungen Trudys entbehren jeglicher Grundlage, bringen sie jedoch in 'vermeintliche' Sicherheit. Währenddessen sinniert ER, der Ungeborene, was womöglich am besten für ihn sei und ihm das Liebste; zur gleichen Zeit läuft eine Radiosendung, die er zum alten Europa beeindruckend klar und kritisch überdenkt - köstlich!
Während zwei Hauptprotagonisten schleunigst ihre Koffer packen, kündigt sich indessen das Wunder der Geburt an - etwas zu früh, oder gerade zum richtigen Zeitpunkt? ;)

Fazit:
Ein eindringlicher, brillant geschriebener Roman, in dem sich trockener britischer Humor zuweilen Bahn bricht und der eine witzige Idee, die Ich-Erzählung eines Ungeborenen, fabelhaft umsetzt: Ein unglaublicher Roman, philosophisch, bissig, witzig, zuweilen sehr gesellschaftskritisch und eine Reflexion über die Spezies "Mensch" aus ungewöhnlicher Sicht eines Fötus. Mir hat der Stil sowie der Romaninhalt des renommierten britischen Autors sehr gut gefallen, daher vergebe ich 5 Sterne und eine absolute Leseempfehlung.