Rezension

Parabelhafter Roman voller Sprachgewalt und vielschichtiger Symbolik

Der Hydrograf - Allard Schröder

Der Hydrograf
von Allard Schröder

Bewertet mit 5 Sternen

Reise ins Unbekannte

Dem niederländischen Schriftsteller Allard Schröder ist mit seinem Buch Der Hydrograf ein ganz außergewöhnliches Werk gelungen, das mit seiner Sprachgewalt und vielschichtigen Symbolik beeindruckt. Ganz langsam entfaltet dieser leise Roman seine Wirkung und gewährt unerwartete und oftmals verstörende Einblicke in die existentiellen Tiefen und Abgründe seiner Protagonisten, deren ganze Komplexität am Ende sichtbar wird. Die Hauptfigur dieser ausgefallenen Geschichte, die im Jahre 1913 spielt, ist der Meeresforscher und Physiker Graf Franz von Karsch-Kurwitz, der als Privatdozent am Ozeanographischen Institut in Hamburg arbeitet. Ohne seine Familie und Freunde zu informieren, schifft er eines Tages auf dem Viermaster Posen in Richtung Valparaíso/Chile mit keinem bestimmten Ziel ein. Die Selbstlüge, die er sich im Hinblick auf den Zweck dieser Reise auftischt, ist, dass er wissenschaftliche Beobachtungen durchführen und diesbezügliche Daten zusammenstellen will. Doch schnell muss er sich eingestehen, dass dies nur ein vorgeschobener Grund ist, denn in Wahrheit flüchtet der junge Forscher vor seinem in Monotonie erstarrten und pflichtbeherrschten Leben, das an ihm vorbeizieht, während er nur ein teilnahmsloser Zuschauer ist. Darüber hinaus ist auch seine arrangierte Ehe mit Agnes Saënz, eine junge Frau, für die er nicht das Geringste empfindet, eine weitere triftige Veranlassung, um sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. 

Flucht ohne Ziel

Doch schon zu Beginn der Reise wird Franz klar, dass er all seine wissenschaftlichen Untersuchungen nur halbherzig macht, weil seine Arbeit für ihn sinnlos geworden ist. Das Meer, das als Hydrograf eigentlich sein Element sein müsste, hat ebenfalls keine große Bedeutung mehr für ihn. Und so verbringt er seine Tage an Bord zwischen Lebensüberdruss, Selbstekel und unerträglicher Langeweile, wovon auch seine Mitreisenden ihn nicht ablenken können. Im Gegenteil: Der aus Triest stammende Salpeterhändler Amilcar Moser, der auf einer Geschäftsreise nach Chile ist und sich selbst als Mann der Tatsachen beschreibt, geht Franz mit seinem ständigen „Die-Zeiten-werden-sich-bald-zu-meinen-Gunsten-ändern“ Gerede gehörig auf die Nerven. Insgeheim bewundert Franz allerdings die Einstellung des Bonvivants, der sein Leben und die Frauen zu genießen vermag. Auch mit dem Lehrer Dr. Ernst Todtleben, der auf dem Weg zu seinem neuen Job am Deutschen Gymnasium in Santiago de Chile ist, kann Franz nicht viel anfangen. Die hochtrabenden philosophischen Ausführungen von Todtleben sind ihm ein Gräuel – dies resultiert allerdings aus einem tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplex, denn Franz hält sich in jeder Hinsicht für mittelmäßig und wenig talentiert.

Gefährliche Begegnung

Und so plätschert die Reise für Franz ziel- und ereignislos dahin, bis in Lissabon die schöne und geheimnisvolle Tänzerin Asta Maris an Bord kommt, die alle drei Männer in ihren Bann zieht. Sie bringt die Gefühlswelt des beherrschten, stets auf Kontrolle bedachten Franz völlig ins Wanken: Eifersüchtig muss er zusehen, wie sie sich mit dem offenbar recht biederen Todtleben anfreundet. Doch als letzterer nach einem Landgang mit der attraktiven Blondine nicht mehr zurückkehrt und später schwer verletzt aufgefunden wird, kommen Franz erste Zweifel an der undurchsichtigen Dame. Aber er kann sich trotz allem ihrer Faszination nicht lange entziehen. Bald muss er jedoch feststellen, dass nichts so ist, wie es scheint und dass jeder ein düsteres Geheimnis hütet, welches auf keinen Fall ans Licht kommen darf. Dies trifft jedoch nicht nur auf Asta Maris und Todtleben zu, sondern auch auf Franz, dem schließlich keine andere Wahl mehr bleibt, als sich den Dämonen seiner Vergangenheit zu stellen…

Parabelhafter Roman mit vielschichtiger Symbolik

In seinem parabelhaften und symbolträchtigen Roman Der Hydrograf erzählt Allard Schröder die Geschichte eines jungen Wissenschaftlers, der angesichts einer für ihn unerträglichen Stagnation in seinem Leben die Flucht nach vorne antritt und sich auf eine Reise ins Unbekannte begibt. Diese Reise, die als existentielle Wiederbelebung angedacht war, wird jedoch zu einem beängstigenden Trip in sein Innerstes, die ihm, dem Verstandsdominierten, sehr viel abverlangt. Zur Verdeutlichung dieser Seelenexpedition bedient sich Allard Schröder zweier Archetypen – Schiff und Meer. Das Schiff bzw. die Reise als Symbol für das Streben nach Veränderung und Neuanfang ist hier sehr passend gewählt. Dies gilt in gleicher Weise für das Meer, das als Symbol für das Unterbewusste steht.1 In dieser Geschichte fungiert es als Spiegel des Gemütszustandes der ambivalenten Protagonisten: Aufbrausend wie ihre emotionalen Achterbahnfahrten und still wie ihre Lebensflauten, die sie nicht zu überwinden vermögen. Diese Einblicke, die uns Schröder in die Abgründe der menschlichen Natur gewährt, sind verstörend. Sein unvergleichlicher Erzählstil und seine sprachliche Brillanz machen den Roman zu einer ganz besonderen Lektüre. Daher mein Fazit: Sehr empfehlenswert!