Rezension

Psychologisch hochinteressante Dystopie!

Zersplittert - Teri Terry

Zersplittert
von Teri Terry

Nachdem Kyla in einer Welt, die von den sogenannten Lordern regiert wird, für ein ihr unbekanntes Verbrechen geslatet wurde, sollte sie sich eigentlich an nichts mehr erinnern können. Nachts wird sie jedoch von Albträumen heimgesucht, die derart real scheinen, dass es sich dabei nur um Erinnerungsstücke handeln kann, die eigentlich längst verschwunden sein müssten. Plötzlich ist sie sich nicht mehr sicher, ob sie Links- oder Rechtshänderin ist, doch sie versucht jede Veränderung krampfhaft zu verbergen, denn sonst droht ihr die endgültige Auslöschung. Ihr Bio-Lehrer John Hatten beobachtet sie allerdings genau und stellt sich ihr bald als Nico, Anführer der Terroristengruppe Free UK vor, deren überzeugtes Mitglied sie offenbar in der Vergangenheit war. Wieso sonst sollte ihr Nico so bekannt vorkommen? Und auch, dass sie bei seiner Truppe Rain hieß, weiß sie ganz sicher. Nur wie kommt es dann, dass das Foto auf einer illegalen Vermissten-Website sie als Lucy Connor identifiziert, die im Alter von 10 Jahren verschwunden ist? Seit ihr Freund Ben von den Lordern geholt wurde, hat sie jedoch keine Vertrauensperson mehr, also setzt sie all ihre Hoffnung in Nico. Bald schon erkennt sie allerdings, dass ein schreckliches Ereignis ihre Persönlichkeit in zwei Teile gespalten haben muss, damit zumindest eine Hälfte das Resetten ihres Gehirns überstehen konnte. Doch kann sie Nico oder dem neuen Nachbarsjungen wirklich vertrauen? Und was hat der Turm damit zu tun, der sie jedes Mal in mysteriöse Aufregung versetzt, sobald sie Schach spielt? Irgendetwas daran scheint wichtig zu sein...

Der Titel "Zersplittert" passt hervorragend zum Buch, da er den psychischen Zustand der Protagonistin in einem Wort wiedergibt - Kyla ist nicht nur ein seelisches Wrack, seit Ben geholt und vermutlich getötet wurde und sie sich von ihren Pflegeeltern, den Lordern, Ärzten und Free UK in die Mangel genommen fühlt, sie ist auch wortwörtlich in mehrere Teile gesprungen: Lucy, Rain und Kyla.

Das Buch war sehr flüssig geschrieben und daher angenehm zu lesen. Aufgrund der detaillierten Beschreibungen, was mit Ben geschehen ist, bot es zudem auch für neue Leser der Serie einen guten Einstieg - trotz Auslassung des ersten Bandes bekommt man also nicht das Gefühl, dass man etwas verpasst hätte oder ein Teil zum Verständnis fehlt.

Die Charaktere sind sehr facettenreich, da fast jeder von ihnen eine Seite besitzt, von der man zu Anfang nichts ahnt, weshalb man als Leser durch einen solchen Twist mehr als einmal angenehm oder auch unangenehm überrascht wird, was mit zu dem hohen Spannungsbogen beiträgt.

Nico beispielsweise ist einem von Anfang an nicht wirklich geheuer, denn die Angst, die Kyla vor ihm und seinen Bestrafungen hat, steht im absoluten Gegensatz zu der sanften und fürsorglichen Seite, die er ein andermal an den Tag legt, weshalb diese nicht immer aufrichtig wirkt. Außerdem ist seine Opferbereitschaft an eigenen Leuten meiner Meinung nach ein wenig zu hoch, was ihn oft kalt und unmenschlich erscheinen lässt. Auch habe ich mich genau wie Kyla oft gefragt, wie er solch grenzenloses Vertrauen in sie setzen kann, obwohl sie als Befreiungskämpferin völlig ungeeignet ist - auf der anderen Seite allerdings auch, warum die sonst grundlegend misstrauische Kyla sich so naiv von ihm einwickeln lässt. In jedem Fall stehen die beiden in einem sehr interessanten Abhängigkeitsverhältnis zueinander, das gleichermaßen für Faszination und Abscheu sorgt, genau wie natürlich für viele Fragen.
Interessant ist jedoch auch Kylas Mutter, die wegen ihres von den Lordern genommenen Sohnes zumindest in Betracht zieht, sich dem Widerstand anzuschließen, obwohl sie die Tochter des Gründers der Lorder ist und bei einer Jubiläumsrede das Risiko auf sich nimmt, als Staatsfeindin abgestempelt zu werden.
Der neue Nachbar Cam wirkt dagegen schon fast zu perfekt. Er interessiert sich für Kylas Probleme, unternimmt Spaziergänge und Radtouren mit ihr, bringt ihr Kuchen mit und lässt sich sogar für sie von den Lordern verprügeln - tatsächlich schon zu schön, um wirklich wahr zu sein.

Besonderes Augenmerk liegt in diesem Buch sowohl auf den physischen als auch auf den psychischen Manipulationstricks, die von den verschiedenen Lagern angewendet werden und fortan das weitere Leben ihrer Opfer bestimmen, was zwar bisweilen etwas gruselig, aber auch sehr interessant ist. So hat mir beispielsweise das häufige Wiederkehren des Turms (der Schachfigur) sehr gut gefallen, da er wie einige andere Gegenstände einen psychischen Prozess bei der Protagonistin in Gang gesetzt hat, der zusammen mit bestimmten Ereignissen zur Widerkehr bestimmter Erinnerungen führt.

Das einzige Manko war Kylas manchmal etwas übertriebene Naivität gegenüber Nico, obwohl sie doch andererseits solche Angst vor ihm hatte. Meiner Meinung nach hätte sie seine Absichten aus dieser Angst heraus ein wenig öfter hinterfragen müssen, aber wenigstens wundert sie sich manchmal selbst darüber, dass sie eben das nicht tut. Als ihre komplette Erinnerung zurückkehrt, reagiert sie meiner Meinung nach allerdings sofort richtig und der Bann, den er um sie gewoben hatte, wird gebrochen, weil sie plötzlich alles klar sieht.

Insgesamt ist "Zersplittert" also eine sehr gelungene Jugend-Dystopie, die sich neben den üblichen Themen mit der physichen und psychischen Manipulation des Gehirns beschäftigt, was ihr im Gegensatz zu vielen gängigen Dystopien etwas Neues verpasst, sodass man nicht das Gefühl bekommt, man kenne die ganze Story schon.
Ich kann das Buch nur empfehlen und werde sicherlich bald die Lektüre von Band 1, "Gelöscht", nachholen!