Rezension

Radikale und dennoch einfühlsame Erzählung - Gänsehaut garantiert!

Alles so leicht
von Meg Haston

Bewertet mit 5 Sternen

Stevie ist essgestört. Seit dem Tod ihres Bruders ist für sie klar, dass sie auch sterben muss und zwar genau an seinem Jahrestag. Ihren Tod will sie durch den Verzicht auf Nahrung erreichen, aber 27 Tage vor dem Todestag ihres Bruders kommt sie in eine Klinik für Essgestörte.
Aber Stevie will nicht leben, weshalb sie sich auch den Behandlungen verschließt. Für sie ist klar, dass sie sich niemals von ihrem Plan abbringen lassen wird. Als sie aber realisiert, dass sie aus dieser Klinik nicht so schnell entlassen werden kann, beginnt sie, sich mehr mit ihren Mitpatienten und ihrer Therapeutin zu beschäftigen und bemerkt: nicht alle in dieser Klinik scheinen ihr etwas Böses zu wollen...

Ich war sehr gespannt auf dieses Buch, weil ich mich sehr für Psychologie und insbesondere für Essstörungen interessiere. Schon allein der Buchtrailer hat mich so fasziniert, dass ich wusste: dieses Buch MUSST du lesen!
Auch das Cover ist perfekt gewählt, da es beweist, wie entgegengesetzt das Leben der Protagonistin verläuft. Für sie ist alles "alles so" schwer, was fett gedruckt ist, wodurch vor allem ihr Gefühl für ihren Körper zum Ausdruck gebracht wird und eben nichts "leicht", was sie aber sein möchte, weil man nur mit einer gewissen Leichtigkeit in den Himmel aufsteigen kann, um endlich nicht mehr auf der Erde weilen zu müssen, um nicht mehr die tägliche Schuld ertragen zu müssen.

Der Schreibstil ist radikal, aber sehr authentisch. Man erlebt alles aus Stevies Perspektive und spürt auch am eigenen Leib, wie sehr sie sich selbst hasst und verabscheut. Vor allem ihre Schuldgefühle und ihr egoistischer Drang, auf den sie sich selbst aber auch immer wieder hinweist, kommen sehr gut zum Ausdruck.
Als Leser merkt man, wie krank und gefangen Stevie in ihrem Wahnsystem ist und kann nicht anders, als sich mit ihr mehr auseinander zu setzen und zu beschäftigen. Man will ihr am liebsten selbst helfen und alles tun, nur damit es ihr wieder gut geht. Die Identifikation erfolgt also problemlos, weshalb man mitten im Geschehen ist und sich von dem Buch gar nicht lösen kann. Dementsprechend ist es aber auch keine leichte Kost, weil man selbst zutiefst darunter leidet, wie sehr sich Stevie doch selbst im Weg steht und zerstört.

Da alles aus ihrer Perspektive geschildert wird, weiß man über sie natürlich auch am meisten, auch wenn die Darstellung natürlich sehr subjektiv ist. Vor allem ihr Schwarz-Weiß-Denken ist sehr prägend für diese Figur und auch für ihre Umgebung. Stevie nimmt kein Blatt vor den Mund, zumindest nicht in ihren Gedanken. Man kann sich ausmalen, wie unsympathisch und unmenschlich sie auf andere wirken muss, aber da man ihr am nächsten steht, kann man sie einfach nicht verurteilen.
Aber auch die anderen Figuren werden gut dargestellt, auch wenn man über sie nicht so viel erfährt wie von Stevie. Dennoch reicht das aus, um das Gefühl zu haben, sie zu kennen. Einige Nebenfiguren wuchsen mir auch sehr ans Herz, zum Beispiel auch Stevies Mitbewohnerin in der Klinik, Ashley.

Auch auf die Therapie wird sehr gut eingegangen. Mir gefiel vor allem, dass Stevie nie wirklich unter Druck gesetzt wurde. Den Druck machte sie sich schon selbst, auch wenn dieser aus Sicht der Klinik natürlich in die falsche Richtung ging, da sie weiterhin abnehmen wollte.

Wir sind ein Haufen hoffnungsloser Fälle, die hier abgeladen wurden, damit niemand sehen muss, wie verwundet wir sind. (S. 141)

Interessant war es dann zu sehen, wie sie begann, in der Klinik ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, um mehr in der Gegenwart leben zu können und dadurch auch eine bessere Zukunft haben zu können, ganz egal, was Zukunft in diesem Sinne dann nun bedeutete. Denn das Buch beginnt damit, wie Stevie in die Klinik kommt, weshalb man von ihrem Leben davor nicht wirklich etwas weiß und das nur in Etappen erfährt, wodurch einen Stevie auch immer wieder wie ein Rätsel erscheint.
Aber gerade dieses Erzählen der verschiedenen Lebensgeschichten in Stückchen gefiel mir sehr gut, denn wer kann schon behaupten, einen Menschen nach nur einem Gespräch perfekt zu kennen?

"Du hast gekämpft. Du bist im Krieg. Aber du bist im Krieg mit dir selbst. All diese Wut, all diese Trauer richtest du gegen deinen eigenen Körper. Und? Gewinnst du?" "Das werde ich", sage ich knapp. "Wann? Wenn du tot bist?" Ich schweige. (S. 234)

Besonders beeindruckend finde ich, mit was für einer Geduld die Menschen dort behandelt wurden. Auch wenn dem Team klar war, was so manche Patienten vorhatten, wurden sie nie dafür zurecht gewiesen. Nie gab es den moralisch erhobenen Zeigefinger, sondern es wurde versucht, über Gruppenübungen zu beweisen, was für eine falsche Selbstwahrnehmung derjenige hat. Nie wurde in der Therapie aber verlangt, etwas sofort einzusehen, sondern den Mädchen wurde Zeit gelassen.
Dadurch gelingt es Stevie auch, sich langsam aber sicher zu öffnen. Sie selbst sieht sich nämlich als schwach an, wenn sie sich öffnen würde. Die Mädchen werden hier nach der Stärke ihrer Essstörung und ihres Fortschrittes beurteilt. Um zu erkennen, wie weit ein Mädchen ist, gibt es unterschiedliche Armbänder: rote, gelbe und grüne. Dabei sind die "Grünen" schon sehr weit vorangekommen, während die "Roten" dem Tode näher sind als dem Leben. Selbstverständlich ist Stevie stolz darauf, eine Rote zu sein, weil dies sehr viel Disziplin erfordert, weshalb sie die anderen auch verachtet, bis auf ein Mädchen mit Sonde, Cate, welche sie aber nicht um diese beneidet, da ja immerhin ihr eindeutiges Ziel ist, am Todestag ihres Bruders zu sterben. Dementsprechend schlägt sie verbal und emotional zu Beginn der Therapie um sich, aber wird diesen Zustand beinahe schon leid, als alle so verständnisvoll auf sie reagieren, weshalb sie ganz ungewollt anfängt, über alles nachzudenken und sich zu verändern.

Allerdings muss ich gestehen, dass vor allem Stevie mit ihrer Therapeutin großes Glück hat. Denn auch in diesem Buch wurden hin und wieder Fälle geschildert, in denen man sah, dass eben nicht jeder Mensch in einem Beruf des Gesundheitssystems mit jedem gut arbeiten kann. Das fand ich aber sehr gut, weil es nun einmal eben nicht so ist, dass immer alles reibungslos abläuft.

Schon während der ersten Seiten war ich mir sicher zu wissen, wie das Buch enden würde und dennoch bin ich dann dennoch noch überrascht worden. Es gibt Wendungen, die einfach nicht vorherzusehen sind, die wieder einmal beweisen, wie impulsiv Menschen auf gewisse Ereignisse reagieren können, wodurch man noch mehr anfängt, über das Verhalten anderer Leute nachzudenken und es zu hinterfragen.
Das Ende hat mich wehmütig zurückgelassen, weil ich am liebsten noch mehr von Stevie und ihrer Geschichte gelesen hätte. Zurück blieb irgendwie eine gewisse Leere, weil ich mich so sehr mit Stevie beschäftigt hatte, dass sie mir wirklich schon ganz vertraut geworden war. Das schafft nicht jedes Buch!

Ein bewegendes Buch, welches mich mit seiner Radikalität und den ehrlichen und destruktiven Gedanken der Protagonistin voll und ganz in seinen Bann ziehen konnte. Es hat mich aufgewühlt und nicht mehr losgelassen, weil ich mich mit Stevie und ihren Leidensgenossinnen so verbunden fühlte, weil alles so detailliert beschrieben wurde, dass ich mich fühlte, als wäre ich selbst dabei gewesen. Ein aufrüttelndes Buch, welches mich noch für eine längere Zeit beschäftigen wird und noch einmal verschärft für Essstörungen sensibilisiert!

Kommentare

Dunkelbunt kommentierte am 19. August 2015 um 11:15

Da hast du eine sehr schöne und äußerst treffende Rezension geschrieben, danke dafür! Ich hab es alles ganz genauso empfunden wie du und kann die Rezi so unterschreiben. Stevie ist mir auch sehr schnell ans Herz gewachsen, auch wenn ihre destruktive Persönlichkeit oft dafür gesorgt hat, dass ich sie gerne geschüttelt hätte.

Du hast vollkommen Recht dass es wirklich gut ist, dass hier nicht alle Therapeuten als gleich gut beschrieben werden sondern dass es da durchaus Unterschiede gibt und nicht jeder mit jedem gleich gut klarkommen kann. Während des Lesens war mir dieser Aspekt gar nicht so klar aber jetzt wo ich deine Rezi gelesen hab muss ich auch sagen, dass Meg Haston das wirklich sehr gut und authentisch dargestellt hat. :)

Liebe Grüße und viel Lesefreude!

Johanna

MiraBerlin kommentierte am 26. März 2016 um 23:26

Danke für deinen lieben Kommentar! Den habe ich doch glatt erst gerade entdeckt und mich riesig drüber gefreut! <3