Rezension

Realistisch und bedrückend zugleich

Der Reisende - Ulrich Alexander Boschwitz

Der Reisende
von Ulrich Alexander Boschwitz

Bewertet mit 5 Sternen

Die Flucht oder der Wettlauf mit der Verzweiflung

„Und so wird es vielleicht immer weitergehen. Ich bin jetzt Reisender, ein immer weiter Reisender. Ich bin überhaupt schon ausgewandert. Ich bin in die Deutsche Reichsbahn emigriert. Ich bin nicht mehr in Deutschland. Ich bin in Zügen, die in Deutschland fahren. Das ist ein großer Unterschied.“

 

Inhalt

 

Der wohlhabende Kaufmann Otto Silbermann verliert förmlich über Nacht sein gesamtes bisheriges Leben. Am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht rücken Nazis bis in seine Wohnung vor und er flieht in letzter Minute durch den Hintereingang des Hauses. Auch sein bisheriger Firmenteilhaber Gustav Becker, der zwar offiziell kein Judenhasser ist, aber dennoch arischer Abstammung, bricht mit ihm. Zu gefährlich ist eine geschäftliche Verbindung mit dem Staatsfeind Nr.1. Silbermann erhält von seinem ehemaligen Freund noch 40.000 Reichsmark bar auf die Hand und soll sich damit gefälligst aus dem Staub machen, bevor er in Deutschland festsitzt und wie so viele andere in ein Konzentrationslager verfrachtet wird. Fortan ist Otto ein Getriebener, er lebt in den Zügen der Deutschen Reichsbahn und verhält sich möglichst unauffällig. Sein oberstes Ziel ist die Flucht aus Deutschland, doch nachdem er an der belgischen Grenze aufgegriffen wird, verwirft er diese Option. Er schwört sich nur eines, solange er noch Geld hat, kämpft er um sein Leben. Doch eines Tages wird sein Aktenkoffer mit den restlichen 30.000 Mark gestohlen und Otto sieht ein, dass er im Rechtsstaat seines Landes, radikal ausradiert wurde …

 

Meinung

 

Dieses Werk des mit bereits 27 Jahren verstorbenen Autors Ulrich Alexander Boschwitz, erschien bereits 1939 in England und wurde nun erstmals durch den Herausgeber Peter Graf auch in einer deutschen Fassung aufgelegt. In Erinnerung an eine Zeit voller Schrecken, in der es Menschen zweiter und dritter Klasse gab, ebenso wie Abteile in deutschen Zügen. Ein umfangreiches Nachwort des Herausgebers zeigt, dass Boschwitz selbst mit dem Regime ausreichend Erfahrung sammeln konnte und der vorliegende Text viele autobiografische Parallelen aufweist. Ein Grund mehr diesen Roman als wichtiges Zeitdokument zu deklarieren, eben weil die Empfindungen und Ereignisse nicht erfunden sind, sondern auf Fakten basieren. Auch dieser historische Hintergrund macht den Mehrwert des Buches aus, denn als Leser bekommt man hier nicht nur eine beängstigende Geschichte präsentiert, sondern ein aussagekräftiges Zeugnis einer menschenverachtenden Zeit.

 

Die Geschichte selbst wird als eine wahre Odyssee quer durch ein Land beschrieben, denn der Hauptprotagonist, ein anständiger, gewissenhafter Mensch mit ehrenhafter Überzeugung, kann es zunächst einfach nicht glauben, dass gerade er in einem Land, mit dem er sich eigentlich sehr verbunden fühlt, plötzlich zu den Ausgestoßenen zählen soll. Als Kaufmann ist ihm aber auch bewusst, dass ihn sein Vermögen möglicherweise retten wird, er erhofft sich zumindest eine kleine Chance. Doch die Realität trifft ihn mit voller Breitseite. Vermögend zu sein entwickelt sich zunehmend als Handicap, denn wohin soll er mit dem Bargeld?

 

Der Autor vermag es gekonnt die Sorgen von Otto Silbermann für den Leser lebensecht nachzuerzählen, man spürt die Sehnsucht nach Ruhe, den Wunsch nach einem friedlichen Leben aber auch den Überlebenswillen des Protagonisten. Mit jeder neuen Hürde wächst die Verzweiflung und bald ist auch der Leser ein Getriebener, denn man muss unbedingt wissen, welchen Ausgang diese dramatische Geschichte nehmen wird. Besonders hervorheben möchte ich die Nähe des Textes zum Leser an sich, denn man kann sich vortrefflich in die missliche Lage des Erzählenden hineinversetzen, es sind sehr einfache, äußerst plausible Sachverhalte, die den Handlungsverlauf vorantreiben. Und es sind auch interessante Menschen, die Herrn Silbermann in den Zügen begleiten und seinen Weg auf ganz unterschiedliche Art und Weise beeinflussen.

 

Dieser Roman ist ein Zeitzeugnis, ein Andenken und eine diskussionswürdige Geschichte zugleich, denn er berührt sowohl Menschliches als auch Historisches, er erzeugt zunächst eine zuversichtliche Grundhaltung, die sich jedoch nach und nach der Tristesse ihrer Zeit anpasst, aus Verständnis wird Unverständnis und letztlich Unvermögen, sich als Individuum ohne Fehl und Tadel dem verhärmten Zeitgeist zu entziehen. Und genau deshalb wirkt der Roman so nachhaltig, denn anhand einer kleinen Einzelgeschichte zeigt sich, wie es dem Mensch an sich im Nationalsozialismus mit all seinen Verblendungen ergangen ist und ebenso wird deutlich, dass der Jude Silbermann nur einer von unzähligen anderen war, ein Mensch unter Wölfen in einem Land jenseits einer moralischen Verantwortung.

 

Fazit

 

Ich vergebe sehr gute 5 Lesesterne, denn „Der Reisende“ konnte mich auf ganzer Linie überzeugen. Es ist ein gelungener Mix aus Historie, persönlichem Schicksal und aussagekräftiger Gesamterzählung. Ein leicht lesbarer Schreibstil und ein zeitlich klar strukturierter Handlungsverlauf erfreuen den Leser ebenso. Es ist kein großer, literarischer Wurf, den man erst nach mehrmaligen Lesen zu schätzen weiß, nein es ist die Geschichte des kleinen Mannes, der zur falschen Zeit am falschen Ort gefangen war und dessen innere Überzeugung sich nicht mit den Prämissen der äußeren Geschehnisse decken konnte. Ich habe es ausgesprochen gern gelesen.