Rezension

Regentageblau – Gottweiß – Erstehilferot – Föhnblond

Leinsee
von Anne Reinecke

Bewertet mit 5 Sternen

Künstlerroman, Liebesgeschichte, Drama? 

Das Buch lässt sich in keine Schublade stecken: mal ist es im allerbesten Sinne unbequem und schwer zu fassen, dann wieder locker-leicht und unterhaltsam, sogar lustig. Diese Ambivalenz macht für mich einen großen Teil des Reizes aus. Hier kann viel Widersprüchliches nebeneinander existieren, denn man nimmt die Geschichte aus Sicht eines Protagonisten wahr, der im Wandel begriffen ist – ob er das selber will und wahrnimmt oder nicht.

Karl ist kein Mensch, der sich über harte Fakten definieren lässt. Er ist Künstler, und damit fängt die Ambivalenz schon an:

Mit ungläubigem Staunen nimmt er zur Kenntnis, dass er sich mit seinen Werken einen Namen in der Kunstszene gemacht hat. Seine Selbstwahrnehmung ist geprägt von einem Gefühl der Unzulänglichkeit, gleichzeitig verraten seine Gedanken ein sehr feines Gespür für Formen und Farben.

Regentageblau – Gottweiß – Erstehilferot – Föhnblond

Seine Eltern sind ebenfalls Künstler. Aber August und Ada Stiegenhauer sind nicht einfach erfolgreich, sie sind Kult. Ihre Liebe ist legendär: August gibt es nicht ohne Ada, Ada gibt es nicht ohne August. Sonst brauchen und wollen sie nichts von der Welt – und das schließt ihren Sohn mit ein, der im Alter von 10 Jahren ins Internat abgeschoben wurde.

"Kinder muss man loslassen!" – dazu sollte man sie erstmal festgehalten haben, aber in der Zweisamkeit seiner Eltern war kein Platz für Karl.

Das Buch beginnt mit dem totalen Zusammenbruch des Status Quo. 

Ada hat einen Hirntumor, ihre Überlebenschancen sind gering. August will nicht leben in einer Welt ohne Ada und bringt sich um. Und Karl kehrt zurück nach Leinsee, den Ort seiner Kindheit, um die Angelegenheiten seiner Eltern zu klären.

Überhaupt ist Rückkehr ein zentrales Thema des Buches, in vielerlei Hinsicht: Rückkehr in die Heimat, Rückkehr in die Kindheit, Rückkehr in alte Verhaltensmuster. Doch die Rückkehr bietet für Karl zunächst nur wenig Tröstliches oder Heilsames. Für vieles ist es zu spät, anderes erweist sich als Selbstbetrug.

Rückkehren. Festhalten. Später Loslassen.  Manchmal Zerstörung, um auf den Trümmern etwas Neues bauen zu können.  

Die Autorin findet viele Bilder für das, was in Karl vorgeht. Oft ist die Verbindung so offensichtlich, dass sie plump wirken könnte – wäre Karl sich dessen nicht zumindest ansatzweise bewusst. Letztendlich findet er darüber eine Brücke zurück zu seiner eigenen Kunst, die er erst.selber zu begreifen lernt.

Für mich ist einer der interessantesten Aspekte des Buches, wie viel ihre Kunst über Karl und seine Eltern aussagt – aber das sollte jeder Leser für sich entdecken und interpretieren, deswegen möchte ich das so stehen lassen.

Aber ich kann nicht über dieses Buch sprechen, ohne über Tanja zu sprechen.

Karl fühlt sich verständlicherweise um seine Kindheit betrogen. In trotzigem Aufbegehren gegen diesen Verlust baut er sich ein Nest in seinem alten Zimmer und versucht, wieder die Rolle eines kleinen Kindes einzunehmen.

Als die 8-jährige Tanja eines Tages in seinem Kirschbaum sitzt, fühlt Karl sich daher unweigerlich von ihr angezogen und beginnt eine Freundschaft, die sich zunehmend intensiv über Jahre erstreckt. Nach meinem Empfinden bewegen sich die beiden dabei aufeinander zu, was ihre emotionale Reife betrifft:

Tanja wird zunehmend erwachsener und reifer, Karl jedoch will seine Kindheit nachholen. und das geht zwangsläufig mit einer gewissen emotionalen Rückentwicklung einher. Schließlich erreichen sie einen Punkt, irgendwo im Niemandsland zwischen Kindheit und Erwachsensein, an dem sie fast auf Augenhöhe sind.

Dennoch ist diese Freundschaft nicht ohne Spannungen, und es wird immer fragwürdiger, wo die Grenzen verlaufen – oder verlaufen sollten.

Letztlich wird jeder Leser selber entscheiden müssen, wie er diese Freundschaft / Beziehung empfindet. Auf jeden Fall wirf das Buch da interessante Fragen auf, und die Entwicklung der beiden Charaktere wird glaubhaft und schlüssig geschildert. 

Abschließend noch ein paar Worte zum Schreibstil: er ist mal locker und leicht, dann wieder beinahe poetisch, oft voller interessanter Bilder, aber nie belanglos. Die Autorin verleiht Karl eine sehr starke, einzigartige Stimme, wobei er oft einen überraschenden Humor zeigt.

Fazit:

Die Liebe von Ada und August Stiegenhauer ist legendär: die beiden Künstler sind unzertrennlich, das scheinbar perfekte Paar – aber in ihrer Zweisamkeit war nie Platz für  ihren Sohn Karl. Der ist inzwischen 26, hat sich selber einen Namen als Künstler gemacht und pflegt keinerlei Kontakt mehr zu seinen Eltern. Als deren Zweisamkeit jedoch auf tragische Weise zerbricht, muss Karl zurückkehren ins Haus seiner Kindheit und versuchen, mit dieser abzuschließen. Ganz unerwartet tritt dort die 8-jährige Tanja als Muse und kindliche Freundin in sein Leben.

"Leinsee" ist von allem ein bisschen: Künstlerroman, Drama, Liebesgeschichte. Ich fand es durchaus unterhaltsam, aber es ist meines Erachtens kein Buch, dass man nebenher runterlesen kann, ohne darüber nachzudenken. Lohnend fand ich es trotzdem, alleine schon wegen der wunderbar geschilderten Entwicklung der Charaktere.