Rezension

Richtig guter „Zwitter“ aus Kriminal-, historischem und Hamburg-Roman – sehr spannend!

Der Schieber - Cay Rademacher

Der Schieber
von Cay Rademacher

Bewertet mit 5 Sternen

"Die alte Hutkrempenregel: Verletzungen, die durch einen Sturz verursacht werden, liegen am Kopf stets so, dass man sie sehen würde, hätte das Opfer einen Hut auf. Die meisten Schädelverletzungen hingegen befinden sich höher am Schädel.“ S. 214 So lernen Leser und Frank Stave gleichermaßen, der Hamburger Oberinspektor, der doch viel lieber wie vor dem Krieg „Kommissar“ heißen würde. Die Schädelverletzungen hat das bereits zweite Opfer – oder sind es gar drei Opfer? Alle sind Jugendliche – alle hatten zuvor bereits ihre Eltern an den Zweiten Weltkrieg verloren. Hamburg, ab dem 30.05.1947. Die Stadt liegt in Trümmern, steht unter britischer Verwaltung.

 Cay Rademacher lässt das Nachkriegs-Hamburg plastisch auferstehen mit seiner Zerstörung, dem Schwarzmarkt, der Rationierung und Knappheit von fast allem – aber auch schon mit den ersten Gewinnlern und denen, die dauerhaft alles verloren haben: entwurzelten Kindern, die durch Bombenangriffe in Hamburg selbst oder auf der Flucht aus deutschen Ostgebieten ihre Eltern verloren haben, die von klein auf nur den Lebenskampf erlernt haben und sich so nicht mehr einfügen können in die „neue Zeit“. Da wird der Roman fast zur Gesellschaftsstudie, ohne erhobenen Zeigefinger, aber mit etlichen eingeflochtenen Persönlichkeiten des wahren Lebens, wenn sich sein Personal durchschlägt, wenn die Briten Blohm und Voss demontieren lassen, den früheren Konkurrenten, wenn es schiefe Blicke der Nachbarn gibt angesichts neuer Beziehungskonstellationen nach dem Verlust der alten, wenn die Alpträume kommen und die Heimkehrer aus den Gefangenenlagern. Der Text versetzt mich als Leser sehr plastisch hinein.

 Und dennoch: Er bleibt Kriminalroman, rasant dazu, mit seiner unmittelbaren Wirkung auch durch das durchgängige Präsens des Textes, der sich nach meiner Meinung für Liebhaber des Genres als auch für Liebhaber historischer Romane gleichermaßen eignet und viel über Hamburg berichtet, besonders aus dem Milieu der Werften. Es ist kein klassischer „Whodunnit“, bei dem der Leser über Informationen zum Miträtseln verfügt, vielmehr begleitet er Stave und seinen britischen Gegenpart, Lieutenant James MacDonald, bei den Ermittlungen, wie auch schon im ersten Band der Reihe – in diesem Falle inklusive Showdown zum Ende, das Buch hat mir eine Nacht doch reichlich zum Tage gemacht. Ich hatte den ersten Teil vorher gelesen, jedoch ist das nicht zum Verständnis erforderlich; es gibt kurze Zusammenfassungen, ohne dass Autor Rademacher dabei zu ausschweifend wird.

 Klare Leseempfehlung für Spannung, sympathische Protagonisten, eine nach meiner Meinung klug gewählte Auflösung, viel Zeit- und Lokalkolorit und dafür, dass ich neues gelernt habe sowohl über düstere Vergangenheit (Wolfskinder) als auch über (historisches) Arbeitsleben (Tallymann, Schauerleute, Stauer,…!). 5 Sterne, da Band 2 mir noch einen Tick besser gelungen erscheint als Band 1.