Rezension

Roadtrip auf den Spuren einer unbekannten Malerin und warmherzige Familiengeschichte zugleich

Sei mir ein Vater
von Anne Gesthuysen

Inhalt
Lilie lebt in Paris, ist alleinerziehende Mutter eines Sohnes und arbeitslos. Als sie eines Tages nach Hause kommt, trifft sie auf Einbrecher in ihrer Wohnung. Die Diebe möchten ein Bild klauen, das sie bisher kaum beachtet hat und nur von ideellem Wert für sie war, da es ein Geschenk ihres Vaters ist. Kaum ist der erste Schreck überwunden, erhält sie auch noch einen Anruf ihrer deutschen Freundin Hanna, die ihr mitteilt, dass ihr Wunsch-Vater Hermann todkrank ist und nur noch wenige Monate zu leben hat. Sofort bricht sie nach Veen auf, wo sie ein Jahr als Austauschschülerin verbracht und ihre Ersatzfamilie gefunden hat. Im Gepäck hat sie nur das nötigste und das Gemälde, in dessen Bilderrahmen sie einen Brief der Künstlerin Georgette Agutte findet, der weitere Fragen aufwirft. Als auch noch ein Restaurator sein Interesse an dem Bild äußert, möchte insbesondere Hermann mehr darüber wissen. Kurzerhand überredet er Hanna und Lilie zu einer Reise nach Frankreich und bis auf die Antillen, auf der die drei nicht nur mehr über das Leben der Malerin herausfinden, sondern auch langsam Abschied von Hermann nehmen können. 

Meine Meinung
"Sei mir ein Vater" ist eine gleichzeitig spannende, wie auch berührende Geschichte, über zwei Frauen, die auf den ersten Blick sehr unterschiedlich scheinen, aber einen großen Verlust im Leben teilen: den des fehlenden Vaters.

Georgette Agutte wird sicherlich nur denen ein Begriff sein, die sich leidenschaftlich mit der französischen Malerei oder Kunst des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Dabei ist sie eine sehr interessante Persönlichkeit gewesen, die ihr Leben für die damalige Zeit so selbstbestimmt wie es möglich war gelebt hat. Sei es, dass sie sich von ihrem ersten Mann scheiden lies, um ihre große Liebe Marcel Sembat heiraten zu können oder aber auch, dass sie diesen unterstützte und die starke Frau im Hintergrund für ihn war, als er eine politische Karriere anstrebte. Einzig den frühen Verlust des Vaters hat sie nie überwunden und ihm Zeit ihres Lebens in tagebuchartiger Form Briefe geschrieben. Er war so stets ihr Vertrauer und ihre Anlaufstelle bei Sorgen und Problemen.

Lilie teilt das Schicksal des fehlenden Vaters, nur das ihr Vater lebt. Yves ist ein Tunichtgut, der sich nur auf sich konzentriert und kaum Kontakt zu seiner Tochter pflegt. Ein Zustand unter dem Lilie leidet, aber das große Glück hat in dem Schüleraustauschjahr auf Herrmann und seine Familie zu stoßen. In ihm findet sie einen Ersatzvater, der ihr all das gibt, wozu Yves nicht in der Lage ist – Liebe, Zustimmung, Vertrauen und ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl.

Anne Gesthuysen erzählt jedoch nicht nur eine Geschichte zweier unterschiedlicher Frauen auf zwei zeitlichen Ebenen, sondern nimmt uns auch mit auf einen Road-Trip, der gleichzeitig das letzte Abenteuer von Hermann ist bevor er sterben wird. Hermann ist eine dieser Roman-Figuren, die man sofort lieb gewinnt. Er ist ein Schlitzohr, das auf charmante Art an sein Ziel kommt. Ein fairer und sympathischer Mann, der sein Herz am rechten Fleck hat und ein echter Familienmensch ist. Dass er stirbt erfährt der Leser direkt zu Beginn der Geschichte und ich bin froh, dass die Autorin den Weg dorthin frei von jedem Kitsch zu Papier gebracht hat. Sie schreibt zwar bewegend, aber in keinster Weise ausufernd über den Sterbeprozess – das hätte sicher auch Herrmann gefallen, der sich dem Tod widersetzte, solange er die Kraft dafür hatte.

Die Autorin verwebt in ihrem Roman geschickt zwei Familiengeschichten mit Kunst, Kultur und Politik. Und so erfährt der Leser nicht nur, dass Georgette Agutte sich mit Größen wie Renoir, Rodin und Matisse umgab, sondern auch viel über das politische Geschehen, als ihr Mann Marcel Sembat für ein paar Jahre Minister war. Die beiden verband eine tiefe Liebe, die ein trauriges Ende fand. Doch Zeit ihres Lebens waren Georgette und Marcel wohl das, was man als "füreinander bestimmt" bezeichnen kann.

Auf den letzten Seiten geht der Autorin leider ein wenig die Luft aus und alles geschieht für meinen Geschmack zu überhastet, sodass ich einen Punkt abziehen muss. In Summe ist es dennoch ein Roman, den ich jederzeit weiter empfehlen würde, weil er mich nicht nur gut unterhalten hat, sondern ich auch noch einiges über die Belle Epoque dazu lernen konnte. 

Fazit
"Sei mir ein Vater" ist unterhaltsam, spannend und anrührend. Die Geschichte von einem Paar der Pariser Kunstszene des 20. Jahrhunderts und zugleich ein Roadtrip, dessen Zweck nicht nur die Suche nach dem Hintergrund zu einem Gemälde, sondern auch ein Abschied für immer ist. Lese-Empfehlung!