Rezension

Roman über das Leben mit hinreißender Protagonistin!

Bis an die Grenze - Dave Eggers

Bis an die Grenze
von Dave Eggers

Bewertet mit 5 Sternen

Dave Eggers Protagonisten polarisieren! Bei meinem ersten Roman von ihm, blieb mir die Luft weg (Zeitoun). Ich wusste nicht, was ich mit dem Protagonisten machen sollte. Beim zweiten (The Circle) habe ich mich amüsiert und beim dritten ein wenig gelitten, weil Josie einfach eine tragische Figur ist. Und ich ein wenig Josie sicherlich in mir habe.

Dave Eggers ist ein großartiger Schriftsteller. Das vorweg. Vielseitig. Ich lese jetzt den dritten Roman von ihm und keiner ist wie der andere. Und alle super. Unvorhersehbare Autoren, finde ich genial. Hat man Eggers bezüglich seines Romans „The Circle“ eine automatisierte Protagonistin vorgeworfen (Mae), hat Josie jetzt jede Menge Individualität!

"Bis an die Grenze" ist ein Roadmovie. Das habe ich vorher nicht gewusst. Roadmovies mag ich nämlich nicht besonders. Ich dachte, ich kriege Alaska. Landschaft. Leute. Krieg ich auch, aber nicht in erster Linie. In erster Linie kriege ich Josie. Und mit Josie haben die meisten LeserInnen so ihre Schwierigkeiten, wie ich an den Rezensionen sehe. Wenn man sich auf Josie nicht einlassen kann, kann man „Bis an die Grenze“ nicht mögen.

Vordergründig ist Josie etabliert. Sie ist vierzig und eine mehr oder weniger gute Zahnärztin mit eigener Praxis. Sie hat sich also etwas aufgebaut. Sie bekommt ihre beiden Kinder, also Beruf und Familie so einigermassen unter den Hut, aber von perfekt organisiert kann keine Rede sein. Das merkt man schon daran, wie sie den Ausführungen eines befreundeten Kollegen über seine Bilanzen, das Hin- und Herrechnen auf die Zukunft hin, befremdet lauscht: Josie weiß nur so ungefähr, was auf dem Konto ist, überschätzt in aller Regelmässigkeit ihre Einnahmen, während sie die Ausgaben unterschätzt. Doch bis zu einem bestimmten Punkt läuft es einigermassen. Das genügt ihr.

In der Wahl eines Lebensgefährten hat Josie kein gutes Händchen bewiesen, Carl ist anspruchsvoll, lebt auf ihre Kosten und hat einige echt unangenehmen Eigenschaften. Das weiß Josie genau und macht sich über ihn keine Illusionen, lacht innerlich über ihn. Dennoch schafft sie es nicht, Forderungen an das Zusammenleben zu stellen, geschweige denn, sie durchzusetzen oder ihm einen Tritt zu geben, „Fott mit dir!“. Nein, das kann sie nicht. Schon, wenn alles normal läuft, ist Josie mit ihrem Leben einigermassen überfordert, so nimmt sie gerne ein Schlückchen, um die Praxis, die Patienten und die undankbaren Mitarbeiter zu ertragen. Und Carl. Was wird erst sein, wenn etwas aus dem Ruder läuft?

Sicher läuft etwas aus dem Ruder. Das tut es immer. Josie kriegt die diversen Krisen, die alle auf einmal auf sie zuzurennen scheinen, nicht unter die Füße, und so erscheint ihr die Aussicht, alles hinzuschmeißen und wegzulaufen, verlockend. Gedacht, getan. Denn Josie ist impulsiv. Sie schnappt ihre Kinder und ein Wohnmobil und schon ist sie auf und davon.

So beginnt ein Roadtrip durch Alaska. Obwohl sich der ganze Roman um die Protagonistin Josie handelt, die jedoch keineswegs sympathisch ist oder rational handeln würde oder sich in der üblichen Form um ihre Kinder kümmert, kommen Land und Leute nicht zu kurz. Die Leserschaft befindet sich richtig in Alaska. Straßen, Bäume, Wildnis, Einsamkeit, Waldbrände. Elche. Kauzige Typen. Dave Eggers beschreibt die Natur wunderbar, dabei beiläufig.

Josie hat trotz ihres sozialen Berufs nicht viel Menschenkennntnis. Und Josie ist ziemlich unvorbereitet aufgebrochen und Josie hat Angst. Und die Angst betäubt sie weiter mit Alkohol. Wenn Josie nicht aufpasst (oder nicht genug trinkt), dringen Fetzen der Erinnerung in ihr Bewusstsein. Und Josie passt nicht immer auf. So erfährt der Leser, was so alles schief gelaufen ist in ihrem Leben.

Unterwegs passieren die merkwürdigsten Dinge. Und Josie benimmt sich auch immer merkwürdiger und, liebe LeserInnen, Josie weiß das. Aber sie kann nichts dagegen tun, eine gewisse Lethargie hat sich über sie gelegt. Irgendwie aber kommt sie immer wieder aus der Bredouillie, einmal habe ich echt Angst um sie, weil ich denke, sie hat jemanden umgebracht. Und das hätte leicht sein können, Josie schrammt mit ihren Kindern immer haarscharf an einer Katastrophe vorbei.

Als Josie endlich die letzte Kontrolle verloren hat, das letzte bisschen Sicherheit und Berechenbarkeit weggebrochen ist, erkennt sie eine wichtige Lektion: „Mut ist einfach eine Form von Weitergehen.“ Und so lebt Josie den Augenblick und verliert die Angst davor, dass sie das Unvorhergesehene, das das Leben in jedem Augenblick mit sich bringen kann, vielleicht nicht gebacken bekommt und vertraut auf ihr Improvisationstalent, das die LeserInnen während der Reise bereits hinlänglich kennen gelernt haben, Josie bisher aber nicht als ihre eigentliche Stärke erkannt hat.

Warum behaupte ich, Josie sei hinreißend, da die meisten LeserInnen sie nicht einmal ausstehen können? Weil der Autor sie mit so vielen Facetten ausgestattet hat. Sie ist so echt. Solche Menschen gibt es. Verunsicherte. Die erst lernen müssen, auf sich und das Leben zu vertrauen. Sämtliche Protagonisten leben. Und wie. Alle sind glaubhaft dargestellt. Auch der altkluge Paul. Solche Kinder gibt es ebenfalls. Die mit acht den Haushalt schmeißen und ein Partnerersatz sind. (Keiner hat gesagt, dass das „gut“ ist).

Der englische Titel der Romans „Heroes of the Frontier“ ist mit „Bis an die Grenze“ sehr gut übertragen und doppelbödig. Einmal ist Alaska die Grenze von Josies Welt, das Ende der Vereinigten Staaten und andererseits geht auch Josie mit ihren Kindern bis an die Grenze. Bisweilen unerträglich für die Leserschaft.

Fazit: Fantastische Personenzeichnungen inmitten von Alaskas Weite, was will man mehr?

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2017

Kommentare

Steve Kaminski kommentierte am 21. Juni 2017 um 07:56

Eine lebendige Rezi, die Lust auf die Lektüre macht. Vor allem das Motto "Mut ist eine Form von Weitergehen" gefällt mir.

Naibenak kommentierte am 21. Juni 2017 um 09:42

Wow, eine tolle Rezi, Wanda! :-) Ich bin aber nicht so sicher, ob ich Josie mögen würde... Vielleicht eher nicht so richtig. Schön, wie du ihren Charakter vorgestellt hast, dadurch fällt eine Entscheidung letztlich leichter :-)

LySch kommentierte am 22. Juni 2017 um 12:22

Oh Wanda! Was für eine tolle Rezi!! Ich finds klasse, dass du das Buch so positiv darstellst...ich les es auch gerade und bin gespannt, wie sich Josie entwickelt...;) (bin ja noch am Anfang - ein Städtetrip eignet sich weniger gut zum Lesen ;))

katzenminze kommentierte am 22. Juni 2017 um 20:55

Tolle Rezi, Wanda! Ich hab noch nichts von Eggers gelesen bisher. Den Circle habe ich im Blick. Aber du machst mich neugierig, deswegen gehen ich mal zu yvys Wanderrunde. ^.^

LySch kommentierte am 23. Juni 2017 um 10:44

Schön, dass du Eggers mal in Angriff nimmst, Minzi! ;) Kann Wanda nur zustimmen: Ein klasse Autor, der sehr vielseitig schreibt!

Emswashed meinte am 30. Juli 2017 um 10:12

Eggers, echt jetzt? Nach "Der Circle" war ich tief enttäuscht und wollte mit "Bei den wilden Kerlen" Schadensbegrenzung betreiben, hatte aber auch da das Gefühl, dass Eggers seine Leser nicht ernst nimmt.

Jetzt hast Du mir das Gefühl gegeben, vielleicht etwas Entscheidendes bei Eggers übersehen zu haben und meine Teufelshand doch noch mal in das Weihwasserbecken "Bis an die Grenzen" tauchen zu müssen.