Rezension

Rotkäppchen im 21. Jahrhundert

Das Mädchen, das rückwärts ging - Kate Hamer

Das Mädchen, das rückwärts ging
von Kate Hamer

Bewertet mit 4 Sternen

In Kate Hamers Romandebüt  “Das Mädchen, das rückwärts ging“ stehen die inzwischen alleinerziehende Mutter Beth und ihre 8jährige Tochter Carmel im Mittelpunkt. Beth ist einige Zeit zuvor von ihrem Mann Paul wegen einer anderen Frau verlassen worden und kommt noch nicht gut mit ihrer Situation zurecht. Eines Tages besuchen Mutter und Tochter eine jahrmarktähnliche Veranstaltung, bei der Geschichtenerzähler in Zelten auftreten und Bücher präsentiert werden. Obwohl  Beth auf ihre Tochter achtet, geht sie verloren, denn Carmel will nicht ständig unter Beobachtung stehen und versteckt sich. Dann wird sie von einem älteren Herrn angesprochen, der behauptet, ihr Großvater zu sein und der sie zu ihrer angeblich bei einem Unfall schwer verletzten Muter bringen will. Tatsächlich handelt es sich um eine Entführung, aber das weiß zunächst nur der Leser.
Kapitelweise wechselnd wird der Fortgang der Geschichte aus der Perspektive der Mutter und der Tochter erzählt. So weiß der Leser im Gegensatz zu der Mutter, dass Carmel  lebt und wartet darauf, dass sie wieder zusammenkommen. Beths Trauer und Schuldgefühle werden eindrucksvoll gezeigt. Ihr Bemühen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, erstreckt sich über Jahre. Es hilft ihr, dass auch ihr Ex.Mann Verantwortung übernimmt und Lucy, seine neue Partnerin, sie ebenfalls unterstützt. Währenddessen muss Carmel Überlebensstrategien entwickeln, um die abrupte Trennung von den Eltern zu verkraften, zumal ihr „Großvater“  genannt Gramps ihr weismacht, ihre Mutter sei gestorben und ihr Vater hätte kein Interesse an ihr. Der Entführer und seine Partnerin Dorothy bringen das Kind in die USA und leben dort zusammen mit Dorothys Zwillingstöchtern Silver und Melody an wechselnden Orten in einem alten Laster. Ihr „Großvater“  ist Prediger einer Sekte, die bei Versammlungen Wunderheilungen gegen Bezahlung  verspricht. Er glaubt, in Carmel eine Heilerin erkannt zu haben und nennt sie Mercy. Die Szenen mit Carmel als Heilerin sind nach meinem Empfinden schwächer und teils wenig plausibel . 
Der Autorin ist ein sehr einfühlsames Porträt vor allem von Carmel gelungen. Sie ist anders als andere Kinder, verträumt, oft abwesend, ziemlich frühreif und sehr intelligent, obwohl sich der Leser wundert, dass sie den Betrug bis zum Schluss nicht durchschaut. Sie ist immerhin fast bis zu ihrem 14. Lebensjahr in der Gewalt des Entführers. Bei aller notwendiger  Anpassung bemüht sie sich erfolgreich, ihre Identität nicht zu verlieren und ihre Erinnerungen zu bewahren. Der Autorin gelingt es meist, ihr eine passende kindliche Stimme und Gefühlswelt zu verleihen. 
Trotz einiger Längen ist der Roman spannend. Er will allerdings kein Krimi oder Thriller sein, denn es geht nicht um ein Verbrechen und seine Aufklärung, nicht einmal vorrangig um den Täter, sondern darum, wie die beiden Betroffenen mit Verlust und Trauer fertig werden.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Leider ist wie so oft der Titel unpassend gewählt. Zwar nimmt er Bezug auf eine Textstelle gleich zu Beginn – in Beths Träumen geht ihre Tochter immer rückwärts - , ansonsten ist das Rückwärtsgehen nicht weiter von Bedeutung. Für mich wiegt dagegen schwerer, dass durch den deutschen Titel die Bezüge zu dem Märchen “Rotkäppchen“  verloren gehen. Der Originaltitel “The Girl in the Red Coat“ weckt sofort Reminiszenzen an “Little Red Riding Hood“, wobei die inhaltlichen Parallelen sehr deutlich sind: Ein Mädchen kommt vom rechten Weg ab und fällt einem Räuber zum Opfer.