Rezension

Schatten des Zweifels

Denn niemand hört dein Rufen - Mary Higgins Clark

Denn niemand hört dein Rufen
von Mary Higgins Clark

Bewertet mit 5 Sternen

Die schöne und erfolgreiche Schauspielerin Natalie Raines wird beim Nachhausekommen brutal ermordet!
Von Anfang an richtet sich der Verdacht auf ihren Ehemann Gregg Aldrich, von dem sie getrennt lebt, doch ist ihm der Mord nicht nachzuweisen.
Erst, als eineinhalb Jahre später der Berufskriminelle bei einem Einbruch geschnappt wird und, um der erwarteten hohen Freiheitsstrafe zu entgehen, mit der Staatsanwaltschaft einen Deal aushandelt, bei dem er sich bereiterklärt sein Wissen preiszugeben und schwere Beschuldigungen gegen Gregg erhebt, kommt es zur Anklage.
Die ehrgeizige junge Staatsanwältin Emily Wallace wird mit dem Fall betraut. Überzeugt davon, dass Gregg seine Frau getötet hat und seinen vehementen gegenteiligen Beteuerungen nicht glaubend, tut sie alles, um ihn lebenslang hinter Gitter zu bringen.
Doch muss sie sich, je länger der Prozess dauert, eingestehen, dass sie immer weniger an Greggs Schuld glaubt! Und so beginnt sie, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen, die sie bald in höchste Gefahr bringen - und diese droht nicht nur von dem eigentlichen Mörder sondern auch von ihrem unscheinbaren, ihr dennoch Unbehagen einflößenden Nachbarn, der ein erschreckendes Geheimnis birgt....

Nachdem ich acht Jahre nach seinem Erscheinen "Denn niemand hört dein Rufen" zum zweiten Mal gelesen habe - und dies mit der gleichen atemlosen Faszination wie beim ersten Mal -, muss ich sagen, dass Mary Higgins Clark einfach zeitlos gut, um nicht zu sagen brillant ist!
Kaum jemand versteht es so wie sie, raffinierte Geschichten zu schreiben, deren Spannungsbogen sich kontinuierlich aufbaut, die in die Handlung hineinziehen, mitfiebern lassen und die fesseln von der ersten bis zur letzten Seite.
Und wie es sich für einen guten Psychothriller gehört, spielt sich die Spannung vornehmlich auf psychologischer Ebene ab.
Wer grausame und blutige Szenen erwartet, wer die stets perfiden und gefühllosen Verbrechen, die die Autorin in ihren stilistisch höchst eleganten Romanen auflöst, gerne im Detail beschrieben haben möchte, gehört sicherlich nicht zur Zielgruppe, für die die Meisterin des subtilen Grauens schreibt.

Vielmehr verschafft sie dem Leser tiefe Einblicke in die Seelen der von ihr ersonnenen, oft vielschichtigen und komplexen, durchaus polarisierenden Charaktere, die es ihm ermöglichen, ihre Handlungen nachzuvollziehen, ihre Motive zu durchschauen und sie dadurch einfach besser zu verstehen.

Und genau dieses typische Higgins-Clark-Schema liegt auch dem vorliegenden Thriller zugrunde, der diesmal fast zur Gänze im Gerichtssaal spielt, eine Kulisse, derer sich die Autorin schon in einigen ihrer früheren Romane bedient hat, und eine Welt, in der sie sich fraglos auskennt und die sie so gründlich und so professionell recherchiert hat, wie man es von ihr gewohnt ist.
Und wie immer auch gibt es mehrere Handlungsebenen, die schließlich in einem Nervenkitzel-Finale zusammengeführt werden.
Hier liegt der einzige Schwachpunkt des ansonsten makellosen Romans! Wie auch in anderen Higgins-Clark-Romanen sehnt man die Auflösung zwar herbei, steuert das Geschehen zwar darauf zu, aber als es dann soweit ist, geht alles viel zu schnell! Gerne hätte man sich an dieser Stelle größere Ausführlichkeit gewünscht, vielleicht auch die eine oder andere Erklärung, auch eine Art Ausblick...
Aber das ist die Sache der Autorin nicht! In vorliegendem Buch noch weniger als gewöhnlich, wie mir scheint. Aber sei's drum!

Emily, die verwitwete, traurige, einsame und dennoch starke Protagonistin, auch dies wieder typisch für Mary Higgins Clarks Frauenfiguren, ist das bindende Element der unterschiedlichen Handlungsebenen. Nicht nur steht sie, ohne es zu ahnen, im Kreuzfeuer von gleich zwei erbarmungslosen Killern, nicht nur vertritt sie den Staat gegen den unter Verdacht stehenden, eigentlichen Sympathieträger Gregg, sondern sie ist auch jemand, der seit einiger Zeit mit einem transplantierten Herzen lebt!
Davon möchte sie schon aus beruflichen Gründen keinerlei Aufhebens machen und tut ihr Möglichstes, es nicht publik werden zu lassen. Doch immer drängender werdende verstörende Gedanken, ja sogar flüchtige Dejavus lassen sie, und gleichzeitig auch den Leser, vermuten, dass nicht nur das Herz des toten Spenders in ihrem Körper schlägt!
Ob so etwas im Bereich des Möglichen liegen könnte, lässt die Autorin jedoch offen und überlässt die Antwort darauf stattdessen der Spekulation des Lesers....