Rezension

Schattenseiten des Fortschritts

Runa
von Vera Buck

Bewertet mit 5 Sternen

„Das 19. Jahrhundert brachte enorme Fortschritte in der Diagnose und Therapie vieler Krankheiten vor allem durch die Entwicklungen im Bereich der Naturwissenschaften.“ sagt Wikepedia. 

Dieser Geist durchweht auch die Salpêtrière in Paris, die 1881 der große Dr. Charcot leitet, der für seine innovativen Behandlungsmethoden hysterischer Frauen berühmt ist. Immer Dienstags gibt er öffentliche Vorstellungen seiner Kunst. Da kann man am lebenden Objekt beobachten, was hysterische Anfälle auslöst, wie sie ablaufen und wie hilfreich dagegen beispielsweise eine Ovarienpresse wirkt. 

Hier blickt man in Abgründe. Was damals vermeintlich geisteskranken Frauen im Dienste der Wissenschaft angetan wurde, lässt mittelalterliche Heilmethoden sanft erscheinen. Dabei war der Begriff „geisteskrank“ sehr weit gefasst. Auch „krankhafte Onaniesucht“ war zum Beispiel ein Zeichen von Hysterie. 
Als das Mädchen Runa eingeliefert wird, ist die Ärzteschaft der Salpêtrière mit ihrem Latein am Ende. Runa reagiert auf keine Behandlungsmethode, spricht nicht, isst nicht und weint nicht. Sie wird dem Studenten Jori als Forschungsobjekt zur Verfügung gestellt, der psychochirurgische Eingriffe erproben soll. In Zuge seiner Recherche befallen Jori zunehmend Zweifel.

Gleichzeitig ermittelt der ehemalige Polizeiinspektor Lecoq in einem Mordfall, der mit merkwürdigen Schriftzeichen zusammenhängt. Er hat seinen Dienst quittiert, als er feststellen musste, dass er nach neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Physiognomie ein Verbrechergesicht hat, tut sich aber schwer mit seiner Verbrecherkarriere.

Eindringlich, bildhaft und mit einigem Humor erzählt hier Vera Buck eine unglaubliche Geschichte, die einerseits ein schauriges Kapitel der Medizingeschichte behandelt, andererseits auch ein höchst mysteriöser Thriller ist. Dieses Buch entfaltet in kürzester Zeit Sogwirkung. Das Lesen macht Spaß, auch wenn die Handlung und zu großen Teilen schrecklich ist.
Ich bin sehr froh, über dieses Buch gestolpert zu sein. Es macht das, was ich mir von historischen Romanen erhoffe: Geschichte lebendig.