Rezension

Schlichtweg ein Meisterwerk

Anna Karenina - Leo N. Tolstoi

Anna Karenina
von Leo N. Tolstoi

Bewertet mit 5 Sternen

"Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise." - Mit diesen weltberühmten Worten startet Rosemarie Tietzes aktuelle Übersetzung Tolstois Meisterwerk. Das Familienportrait zeigt die unglücklichen, aber auch glücklichen Seiten zweier Familien, die über das Geschwisterpaar Anna Karenina und Stepan Oblonski verbunden sind. Die Frauen sind, mit Ausnahme Lewins, die tragenden Figuren: Oblonskis Frau Darja/Dolly, die schwere Zweifel an ihrer Ehe plagen, ihre Schwester Jekatarina/Kitty, im heiratsfähigen Alter zwischen Verehrern und eigenen Wünschen zerrissen und Anna, deren heile und bis dato glückliche Welt durch die Begegnung mit Wronski und die entflammende Liebe zerbricht. Alle drei durchleben Phasen großer Enttäuschung, tiefen Leidens und großer Zweifel - ebenso wie schier überbordende Glücksgefühle. Zwischen diesen Gefühlen, Vernunft und gesellschaftlicher Erwartung lässt Tolstoi sie lebendig werden und den Leser an ihren Gedanken teilhaben.

Anna Karenina besticht nicht durch Handlung, gemessen an der Länge des Werks passiert wenig. Es ist das Sittengemälde der russischen Gesellschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit all ihren Problemen - es ist die Zeit der großen Reformen Alexanders II., die durch Lewin diskutiert werden. Fragen nach der Rolle des Adels werden ebenso aufgeworfen wie kommunistische Gedanken, die das Land viele Dekaden später prägen werden. Die zentrale Problematik spiegelt sich jedoch in Anna Karenina wieder, die als verheiratete Frau aus dem Gefängnis der Ehe ausbrechen möchte und an den Konventionen, aber auch an ihrem eigenen Unvermögen zu kommunizieren und mangelnder Empathie zerbricht. Die Intensität mit der Tolstoi die Zerrissenheit der Frauen, insbesondere Annas und Kittys, schildert, überbrückt alle zeitlichen Distanzen und ist heute aktuell wie zur Zeit der Erstveröffentlichung.

Erstaunlich ist, dass die titelgebende Figur erst nach rund 100 Seiten zum ersten Mal auftaucht. Vorher schwebt sie zwar über der Handlung, ist aber nicht präsent. Mit ihrer Ankunft am Bahnhof bereitet Tolstoi ihr jedoch einen roten Teppich und legt den Grundstein für ihr Unglück. Der Kreis schließt sich, indem man sie auch am Bahnhof ein letztes Mal sieht - unter anderem darin zeigt sich die Kunst Tolstois, die Tragik auf einen einsamen Höhepunkt zu bringen.

Einen großen Beitrag hat sicherlich auch Rosemarie Tietze geleistet, deren Übersetzung sprachlich absolut gelungen ist. Leicht fliegt der Text dahin und schafft den schwierigen Spagat zwischen modernem Ausdruck und der Handlungszeit angemessener Formulierung.