Rezension

Schockiernd und spannend von der ersten bis zu letzten Seite

Die Witwe - Fiona Barton

Die Witwe
von Fiona Barton

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt:

Als die zweijährige Bella Elliott eines Tages spurlos verschwindet, ist ganz England in heller Aufruhr. Das kleine Mädchen hatte nur wenige Minuten unbeaufsichtigt im Garten mit ihrer Katze gespielt; doch als ihre Mutter nach Bella sehen will, ist das Kind wie vom Erdboden verschluckt. Offenbar wurde Bella am helllichten Tag entführt. Der blaue Lieferwagen, der am Tattag ganz in der Nähe des Kindes gesehen worden war, lenkt den Verdacht recht schnell auf den Kurierfahrer Glen Taylor. Auf seinem Computer werden zwar kinderpornografische Bilder gefunden und er hält sich offenbar auch häufig in Pädophilen-Foren auf, aber er hat für die Tatzeit ein Alibi, das seine Frau Jean bestätigt. Sie hält unerschütterlich zu ihrem Mann und ist offensichtlich felsenfest von seiner Unschuld überzeugt.
Während sich die verzweifelte Mutter des Kindes nicht von der Hoffnung abbringen lässt, dass ihre kleine Bella noch am Leben ist, steht für die Presse jedoch fest, dass Glen Taylor ein pädophiles Monster ist, das das Kind entführt, missbraucht und getötet hat. Die Medien stürzen sich wie die Geier auf den Fall und belagern Tag und Nacht das Haus der Taylors. Auch die Journalistin Kate Waters wittert nun die Schlagzeile ihres Lebens.
Detective Inspector Bob Sparkes, der in diesem Fall ermittelt, ist es jedoch nicht möglich, Glen Taylor nachzuweisen, etwas mit dem Verschwinden der kleinen Bella zu tun zu haben, sodass Glen schließlich vor Gericht freigesprochen werden muss, obwohl er immer noch verdächtigt wird.

Vier Jahre später stirbt Glen Taylor bei einem Unfall. Nach wie vor fehlt jede Spur von Bella Elliott. Das ungewisse Schicksal des Kindes ließ weder ihre Mutter Dawn noch Detective Sparkes jemals zur Ruhe kommen. Auch die Journalistin Kate Waters hat immer noch Interesse an dem Fall. Sie nimmt schließlich mit der Witwe des Verdächtigen Kontakt auf und will wissen, wie eine Frau mit der Vorstellung zurechtkommt, ihr Ehemann könnte vielleicht ein perverser Pädophiler gewesen sein. Hatte Glen tatsächlich etwas mit dem Verschwinden der kleinen Bella zu tun? Und falls ja, wusste Jean Taylor, was ihr Mann getan hatte? War sie womöglich sogar seine Komplizin? Doch Jean hat ihrem Mann einst geschworen, immer zu ihm zu stehen – an guten und an schlechten Tagen. Gilt das auch noch nach seinem Tod?

Meine persönliche Meinung:

Nachdem ich den Klappentext gelesen hatte, war ich sofort neugierig auf dieses Buch, denn auch ich habe mich schon gefragt, wie sich wohl die Ehefrau eines Mannes fühlt, der einer so entsetzlichen Tat wie Kindesmissbrauch beschuldigt wird. Wissen diese Frauen überhaupt, welche perversen Gelüste und Gedanken ihre Männer insgeheim haben? Und falls sie es wissen, wie leben sie damit? Ist es tatsächlich möglich, mit so einem Menschen unter einem Dach zu leben, weiterhin zu ihm zu halten, sich alles schönzureden oder ihn sogar zu decken?
Mit all diesen Fragen beschäftigt sich Fiona Barton in ihrem Debütroman Die Witwe, der kürzlich im Wunderlich Verlag erschienen ist. Die Autorin war jahrelang als Gerichtsreporterin und Prozessbeobachterin tätig, hat während dieser Zeit häufig Frauen beobachtet, deren Ehemänner auf der Anklagebank saßen, und sich gefragt, wie diese Frauen mit der Vorstellung zurechtkommen, der eigene Ehemann könnte ein perverses Monster sein.
In ihrem Roman Die Witwe erzählt sie nun die Geschichte einer solchen Frau und wirft einen Blick hinter die Fassade einer vermeintlich glücklichen Ehe, die von einem Tag auf den anderen vor eine Zerreißprobe gestellt wird, als der geliebte Ehemann beschuldigt wird, ein Kind missbraucht und getötet zu haben. Dabei lässt uns die Autorin aber nicht nur an den Erlebnissen und Gedanken der Witwe des mutmaßlichen Täters teilhaben, sondern erzählt die Geschichte auch aus der Perspektive der Journalistin Kate, des ermittelnden Polizisten sowie der Mutter des verschwundenen Kindes. Zu Beginn des Romans befinden wir uns zunächst im Jahr 2010, kurz nach dem Tod des Tatverdächtigen, als seine Witwe Jean von der Journalistin Kate aufgesucht und um ein Exklusivinterview gebeten wird. Im weiteren Verlauf springt die Erzählung jedoch immer wieder in die Vergangenheit zurück. Die unterschiedlichen Zeitebenen und die verschiedenen Perspektiven werden dabei sehr geschickt miteinander verwoben, sodass sich die Details, die ein Licht auf das Schicksal der kleinen Bella werfen, erst ganz allmählich offenbaren. Dabei wird man jedoch auch immer wieder auf die falsche Fährte gelockt, was den Roman zu einem äußerst spannenden Leseerlebnis werden lässt.
Besonders tiefe Einblicke erhält man in die Gedanken und Erinnerungen der Witwe von Glen Taylor. Dennoch bleibt diese Protagonistin stets undurchsichtig und rätselhaft. Schon auf den ersten Seiten erfährt der Leser, wie froh und erleichtert Jean ist, dass ihr Mann Glen jetzt tot ist und sein „Unsinn“ nun endlich ein Ende hat. Doch worin dieser „Unsinn“ besteht und ob ihr Mann tatsächlich etwas mit dem Verschwinden der kleinen Bella zu tun hatte, klärt sich erst im Verlauf der Erzählung. Jean wirft den Blick immer wieder zurück in die Vergangenheit und offenbart dabei Details über ihre Ehe, die mich teilweise wirklich erschaudern ließen, aber gleichzeitig auch unglaublich wütend machten. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich unentwegt über Jean aufgeregt habe, denn ihre Naivität und Passivität scheinen wirklich keine Grenzen zu haben. Sie hat offenbar nie gelernt, selbstständig zu denken und zu handeln, wurde dominiert von einem Mann, der blinden Gehorsam und bedingungslosen Zusammenhalt forderte und ihr das Denken vollkommen abnahm. Sie wurde manipuliert und hat nie erfahren, wie es ist, eigene Entscheidungen zu treffen und eine eigene Meinung zu haben, nimmt alles, was ihr Mann sagt, als gegeben hin und wagt nie, sich seinen Wünschen zu widersetzen, um ihn nicht zu enttäuschen. Glen vermittelt ihr Geborgenheit, Sicherheit und auch das Gefühl, stets in seiner Schuld zu stehen, weshalb sie ihn nie verärgern möchte und stillschweigend alles erduldet, was er ihr zumutet. Hin und wieder hatte ich durchaus ein wenig Mitleid mit ihr, aber dann machte sie mich wieder rasend vor Wut. Zweifellos ist diese Protagonistin aber äußerst interessant und vielschichtig angelegt, denn obwohl sie eine dumme graue Maus ist, die alles mit sich machen lässt, vermochte sie es, mich am Ende zu überraschen.
Auch die Journalistin Kate Waters ist eine äußerst ambivalente Figur, von der ich ständig hin- und hergerissen war, denn einerseits schien sie mir teilweise sehr einfühlsam und wirklich daran interessiert zu sein, die Wahrheit ans Licht zu bringen, während sie andererseits aber auch sehr skrupellos war und für eine gute Schlagzeile wohl auch über Leichen gehen würde. Offensichtlich ließ Fiona Barton bei dieser Protagonistin ihre Erfahrungen als Reporterin einfließen, denn in weiten Teilen ist dieser Roman auch eine Abrechnung mit der britischen Medienlandschaft. Den Journalisten ist offenbar mitnichten an der Wahrheit oder an menschlichen Schicksalen, sondern lediglich an der Befriedigung sensationsgieriger und voyeuristischer Bedürfnisse ihrer Leserschaft gelegen. Für eine gute Story ist Kate Waters jedenfalls bereit, all ihre moralischen Bedenken, die sie mitunter durchaus hat, über Bord zu werfen.
Detective Inspector Bob Sparkes hingegen war mir äußerst sympathisch und hat mich häufig auch sehr berührt. Er will den Fall um das vermisste Kind zu einem Abschluss bringen, den Täter hinter Gittern sehen und der verzweifelten Mutter endlich zur Gewissheit verhelfen, was ihrer kleinen Tochter zugestoßen ist. Dabei geht es ihm jedoch nicht um seine Karriere oder berufliche Anerkennung, sondern lediglich um Bellas Schicksal, die Wahrheit und um Gerechtigkeit.
Fiona Barton hat sich sehr viel Mühe gegeben, ihre Protagonisten sehr präzise auszuarbeiten, denn jeder Charakter ist dreidimensional, überzeugend und glaubwürdig und zeugt von einem guten Gespür für menschliche Schicksale und die Abgründe.

Der Schreibstil der Autorin ist sehr angenehm und lässt sich schnell und flüssig lesen. Die Sprache ist einfach, aber äußerst eindrücklich. Der Plot ist stimmig, glaubwürdig und durch die äußerst geschickte, aber nie verwirrende Verschachtelung verschiedener Figurenperspektiven und Zeitebenen unglaublich fesselnd. Wer hinter dem Titel einen temporeichen Thriller vermutet, wird möglicherweise enttäuscht sein. Auf dem Cover wird Die Witwe allerdings auch als Roman und nicht als Thriller bezeichnet, obwohl er durchaus Thriller- und Krimielemente hat und von der ersten bis zur letzten Seite durchgehend spannend ist. In erster Linie ist dieser Roman aber das Psychogramm einer Ehe, die zwar vordergründig glücklich und von bedingungsloser Liebe geprägt zu sein scheint, hinter deren Fassade sich aber dunkle Geheimnisse und tiefe Abgründe verbergen. Die Autorin erspart dem Leser brutale und grausame Details, bedient den sensationsgeilen Voyeurismus, den sie unterschwellig anprangert, somit keineswegs, aber man braucht solche Beschreibungen auch nicht, um von den Perversionen, die zwischen den Zeilen stehen oder auch nur angedeutet werden, vollkommen schockiert, angewidert und verstört zu sein.

Mich hat das Debüt von Fiona Barton jedenfalls sehr nachdenklich gestimmt und in jeder Hinsicht überzeugt. Ich würde mich freuen, bald noch mehr von dieser Autorin zu lesen.