Rezension

Schonungslose Selbstabrechnung mit ironischem Augenzwinkern

Das rote Jahrzehnt - Gerd Koenen

Das rote Jahrzehnt
von Gerd Koenen

Bewertet mit 5 Sternen

Gerd Koenen, Historiker, Ex-KBW-Mitglied und 68-er, unternimmt mit seiner Studie den Versuch, das "rote Jahrzehnt" im Gefolge der Studentenbewegung zu beschreiben und historisch zu verorten. Dass er dabei als unmittelbar Beteiligter schreibt, macht das Buch um so lesenswerter.

Deutlich wird zunächst, dass das Jahr 1968 in seiner Bedeutung doch etwas überschätzt wird. Vieles von dem, wofür es heute verantwortlich gemacht wird, bahnte sich schon früher an, so eine Liberalisierung in zahlreichen Lebensbereichen. Manches kam trotz 1968 zustande, etwa die zahlreichen Bewegungen, die sich in der alternativen Szene herausbildeten, die aber so gar nichts mit dem Dogmatismus der 68-er zu tun hatten. Aber egal, ob eine der zahlreichen K-Gruppen, die Sponti-Fraktion, ja gar die RAF, sie alle einte eine maßlose Selbstüberschätzung, jede/jeder glaubte für sich den allein seligmachenden Weg in eine bessere Gesellschaft gefunden zu haben. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass dem Kampf untereinander mehr Zeit und Einsatz gewidmet wurde als dem eigentlichen Gegner, den angeblich faschistoiden Tendenzen in der Bundesrepublik. Ich selbst kann mich noch an meine Studentenzeit in den frühen 80-ern erinnern, in denen die Nachwirkungen dieser dogmatischen Auseinandersetzungen in der hessischen Provinzstadt Marburg nachhalten, wo sich die verquaste M(arxitische)G(ruppe) und der MSB Spartakus heftigst bekämpften, ganz zu schweigen von den damals fundamentalistischen GBAL-ern. Unmöglich, die Brücke zum Mensa-Gebäude zu überqueren, ohne einen Stapel Flugblätter in die Hand gedrückt zu bekommen.

Aber Koenen stellt nicht nur mit einem ironischen Unterton den Narzissmus und die Megalomanie der damals Beteiligten dar, er stellt auch wichtige Fragen, von denen in dieser Rezension nur einige erwähnt werden sollen.

Kann es sein, dass der Impetus der 68-er, die Empörung über den Vietnamkrieg und den Muff der tausend Jahre, der tatsächlich bisweilen noch spürbar war, in Wirklichkeit dem urdeutschen Wunsch entstammt, den Sieg der Amerikaner zu überwinden, indem man diesmal auf der moralisch richtigen Seite stand?

Wie ist es zu erklären, dass der Pazifismus, der sich im Aufbegehren gegen die amerikanische Vietnam-Politik zeigte, so einfach in einen Krieg gegen den Kapitalismus umformen ließ, der, so zeigt es die RAF, durchaus wörtlich zu nehmen ist?

Wie kann eine Bewegung, die aus dem berechtigten Zorn über die Verbrechen des Dritten Reiches entstanden ist, zu einer antizionistischen werden, bis hin zur "Selektion" jüdischer Geiseln von den anderen anlässlich der Flugzeugentführung, die im Blutbad von Entebbe endete?

Und welchen Beigeschmack hat es, wenn führende Protagonisten des SDS wie Bernd Rabehl oder der RAF-Anwalt Horst Mahler heute auf der extremen Rechten verortet sind? Gibt es vielleicht doch so etwas wie Perönlichkeitsstrukturen, die nach einer totalitären Gesellschaft lechzen. Gerade heute Morgen am Wahltag und dem vermutlich sicheren Einzug der AfD in den Bundestag finde ich solche Fragen höchst aktuell.

Jedem Altersgenossen, aber auch jedem historisch bzw. politisch interessiertem Menschen möchte ich dieses Buch an Herz legen, das sowohl mit einem Augenzwinkern unterhält, aber eben auch wichtige Fragen stellt.

 

 

Kommentare

AnneMF kommentierte am 24. September 2017 um 10:38

Gute Rezension vielleicht haben es einige gelesen bevor sie zur Wahl heute gehen.t