Rezension

Schrecklich schön!

Das Gleichgewicht der Welt - Rohinton Mistry

Das Gleichgewicht der Welt
von Rohinton Mistry

Bewertet mit 5 Sternen

Eins vorneweg gesagt: Die Geschichte hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht! Je mehr ich ihr lauschte, desto erschütterter war ich. Eine tiefe Trauer hatte mich überfallen. Das Ende war schmerzhaft und doch konnte es mich ein bisschen versöhnen. Aber fangen wir doch einfach beim Anfang an.

Es ist ein fulminantes Werk, das Rohinton Mistry geschrieben hat. Ein ehrliches Buch zur Zeit des Ausnahmezustandes und wie sich dieser auf das Leben der Menschen ausgewirkt hat. Mehrere Schicksale werden verknüpft, mehrer Leben die verwoben und auch wieder auseinander gerissen werden. Verschiedene Menschen aus unterschiedlichen Schichten und doch haben sie eines gemeinsam: Sie wollen glücklich werden und ein selbstbestimmtes und angemessenes Leben führen. Aber wir ahnen bereits an dieser Stelle, dass es das große Glück nicht gibt. Es sind vielmehr die vielen kleinen glücklichen Momente, nach denen sich die Protagonisten und der Leser (zurück)sehen.

Bei 27 Hörstunden hat der Höhrer genug Zeit die verschiedenen Figuren kennenzulernen. Wir werden nicht durch die Leben gejagt, nein, man hat das Gefühl, dass man sie mit den Figuren erleben darf. Dadurch haben sie die Möglichkeit zu reifen, erwachsen zu werden und aus Fehlern zu lernen. Das ist wirklich wundervoll!

Was mir sehr gut gefällt, ist, dass die Geschichte(n) der einzelnen Protagonisten nacheinander erzählt werden. Somit kann man sich als Leser / Hörer auf eine Hauptperson konzentrieren und wird nicht damit gestresst, sich alles auf einmal merken zu müssen. Dabei tangieren die Leben der anderen immer wieder den soeben erzählten roten Faden. Das eine oder andere wird dadurch deutlicher oder überhaupt aufgedeckt. Immer wieder erlebt man somit einen AHA-Effekt und muss zugeben, dass die Wahrheit oftmals verschiedene Sichtweisen hat und nicht alles, das scheinbar offensichtlich ist, auch tatsächlich ausschließlich so ist.

Über die Leben der Protagonisten baut sich ganz sanft eine Spannung auf. Es kommt einem die Frage in den Sinn, wohin das Ganze führen soll. Umso näher das Ende kam desto aufgeregter wurde ich! Konnte die Geschichte in einem Desaster enden? Wird es vielleicht doch ein Happy End geben? Und was ist das eigentlich, das Happy End? Ishvar und Omprakash jedenfalls haben mich Genügsamkeit und Demut gelehrt. In der Realität ist die Chance, dass ein Bettler zum Millionär wird sehr, sehr gering. Deshalb wappnete ich mich schon mal darauf, dass alles anders kommt, als man denkt.  

Ich habe sie lieb gewonnen, diese vier verschiedenen Menschen aus verschiedenen Schichten. Dina, die zu Anfang eher selbstgefällig und egoistisch ist, lernt durch den Studenten Maneck und die beiden Schneider Ishvar und seinen Neffen Om, das Leben von einer anderen Seite kennen und zu schätzen. Sie bekommt Tiefe, Charakter und Menschlichkeit. Maneck wird im Laufe des Buches erwachsen und verliert seine ursprüngliche Leichtigkeit. Doch das Leben geht mit Ishvar und Om am härtesten ins Gericht. Rohinton Mistry beschönigt nichts! Er ist ehrlich und diese Ehrlichkeit tut weh; wirklich sehr, sehr weh! Der Schmerz, den ich beim Lesen fühlte, brachte mich immer wieder zum Innehalten und über die Menschen und das Leben nachzudenken.

Der Autor hat es geschafft, mich in die Zeit seines Romans hineinzuversetzen! Ich roch, ich schmeckte, ich fühlte, ich litt! Diese breite epische Erzählung über Indien hatte mich so mitgerissen, dass, je mehr Hörstunden vergangen waren, desto weniger wollte ich mich verabschieden. Nein, ich wollte mehr, obwohl mein Herz blutete.

Mein Fazit:
Wenn wir nur wirklich wollen, können wir uns und somit auch das Leben für andere ändern. Auch in schweren Zeiten kann Empathie und Menschlichkeit gelebt werden, vor allem dann ist es wichtig, dass wir uns derer erinnern, denen es schlechter geht als uns. Schon ein Lächeln kann den Tag eines Mitmenschen verschönern und sein Gleichgewicht wieder herstellen.

Dieses Buch ist so viel Wert! Es hat das pure Leben in sich und geizt nicht mit schönen und schlechten Dingen. Es ist so echt wie das Leben selbst und wurde damit zu einem meiner Herzensbücher. Ein Buch mit einer leisen und stetigen Geschichte, die dann mit ganzer Kraft und Gewalt mein Gleichgewicht gestürzt hat und mir nicht erlaubte, mich sofort einem anderen Buch zuzuwenden. Es hatte mir das Herz zerrissen! Auch jetzt noch, einige Zeit später, kann ich Ishvar und Om nicht aus meinen Gedanken vertreiben. Sie und ihr Schicksal haben sich bei mir eingebrannt und werden mich wohl noch sehr, sehr lange begleiten und mich daran erinnern, dass das Leben immer wieder schön sein kann, aber deshalb nicht minder schwer.
Dieses Buch wird auch als Print in mein Herzensregal wandern, da es sicher irgendwann noch einmal gelesen wird.

Zum Hörbuch:
Wem das gedruckte Buch zu schwer ist, kann getrost zum Hörbuch greifen. Richard Barenberg hat seine Aufgabe sehr gut gemeistert! Mit seiner angenehmen Stimme konnte er das Werk vor meinem inneren Auge hörbar machen und mich nach Indien, nach Bombay versetzen und mich als Beobachter teilnehmen lassen. Danke dafür!