Rezension

Sehr lesenswerter Roman über 2 starke Frauen - oder "Mütterchens Koffer"

Im Sommer wieder Fahrrad - Lea Streisand

Im Sommer wieder Fahrrad
von Lea Streisand

Bewertet mit 4 Sternen

"Im Sommer wieder Fahrrad" von Lea Streisand erschien im Ullstein-Verlag (HC, 2016) und kommt in dunkeltürkisem Cover daher, auf dem das Foto einer jungen, rauchenden Frau (wohl "Mütterchen") abgebildet ist, das mittels eines 'Schnipsgummis' nicht vom Cover fallen kann ;)
Der Titel selbst spiegelt die positive Sichtweise auf den Inhalt wieder und die Thematik, in dem es in diesem Roman, dem Début von Lea Streisand, geht: 

Es handelt sich um eine sehr unterhaltsame, tiefgründige und in ironisch-heiterem Ton verfasste Familiengeschichte mit starken Charakteren: Da ist zum einen die Großmutter Ellis, "Mütterchen" genannt und deren Enkelin Lea, die kurz vor dem Ende des Studiums an Krebs erkrankt. Verortet ist der Roman in Berlin. 

Zwei Erzählstränge, die immer wieder ineinandergreifen, kurze Wechsel haben, bestimmen den Stil: Während einerseits das Leben von Mütterchen - seit den 20er Jahren des letzten Jhd. nach und nach aufgerollt oder auch (sie war Schauspielerin) 'zurückgespult' wird, erlebt der Leser gleichzeitig die verschiedenen Stadien der Krebsbehandlung Lea's, vom ersten Schock über die Diagnose bis zu den Zyklen der Chemotherapie. 

Der Roman liest sich wie eine Reise durch zwei miteinander verbundene Leben: Mit Mütterchen geht die Reise durch die NS-Vergangenheit, in die Säle und Bühnen des deutschen Theaters in Kriegs- und Nachkriegszeiten und ihre Passion für die Schauspielerei, die sie auf Wanderbühnen und später als Regieassistentin ausübte und dabei sehr viel erlebte. Die andere Reise ist die der Enkelin Lea, die sehr ehrlich und nachvollziehbar von der Behandlung ihrer Krebserkrankung erzählt.. In Rückblicken, auch Mütterchen's Leben betreffend, deren Koffer sie nach deren Tod öffnet, sieht sie vieles analytisch und hat Paul an ihrer Seite, der sich sehr liebevoll und empfindsam um sein "Schätzchen" kümmert; hier werden auch Grenzen der Belastbarkeit aufgezeigt, die Angst der Protagonistin vor dem Tod, die sehr realistisch beschrieben wird.... 

Mir hat besonders die große Authentizität gefallen, in der sowohl von Lea's eigenem Leben und ihre Erkrankung beschrieben wird, als auch das von Mütterchen, das Lea mit ihrem eigenen Leben vergleicht und aus deren Notizen sie Stärke bezieht, große Liebe zur Großmutter spricht. So spendet Mütterchen postum ihrer Enkelin große Kraft, die Lea selbst für sich nutzen kann. 

Aus vielen Sätzen blitzt eine gute Portion Schalk; Humor und Ironie kommen auch trotz oder gerade wegen der Thematik nicht zu kurz, was mir sehr gut gefallen hat. Auch kleinere Seitenhiebe auf das Leben in der früheren DDR sind in dem Roman zu finden, die ich sehr realistisch empfand (ich habe die DDR mehrmals mit meinem Vater Anfang der 80er Jahre bereist). 
So ist auch der Bau der Mauer, die lange Zeit Freunde und Familien auseinanderriss und die Tragik für die Betroffenen als ein Stück Berliner Nachkriegsgeschichte sehr gut dargestellt. 

Das größte Plus dieses berührenden Romans ist die Ehrlichkeit sich selbst und ihrem Körper gegenüber, die Lea zum Ausdruck bringt wie die Konsequenz, mit der sie alles "Falsche" (Perücke, Schminke) strikt ablehnt. Auch im emotionalen Ausdruck schafft es die Autorin, ihren Figuren sehr viel Leben einzuhauchen, oftmals mit einer ironischen Note. Sie leuchtet die Protagonisten gut aus und macht sie zu Sympathieträgern; sowohl Mütterchen, als auch die Mutter von Lea als auch Lea selbst. 

Fazit: 

Ein Familienroman, eine sensible, heiter-ironische, zuweilen auch tieftraurige Geschichte über das Leben zweier starker Frauen, die jede auf ihre Art gegen die Anfeindungen des Lebens erfolgreich kämpfen; eine Erzählung, die Einblicke gewährt in die Geschichte des deutschen Theaters und in eine der ärgsten Krankheiten unserer Zeit; nicht zuletzt eine Mutmach-Geschichte, die ich sehr lesens- und empfehlenswert finde. Der Titel ist übrigens von Hoffnung getragen, ebenso wie der Roman selbst! Ich vergebe 4 Sterne am Bücherfirmament.